Freiheitsheld, Liberaler, russischer Nationalist, opportunistischer Populist oder nächster Zar - wie tickt der Kreml-Kritiker?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Es ist ein Video, das, wäre es von einem österreichischen oder deutschen Politiker, wohl dessen sofortigen Rücktritt zur Folge hätte: "Hallo, heute werden wir über den Kampf gegen Insekten sprechen", leitet da ein junger Russe einen kurzen Clip ein. "Niemand von uns ist dagegen geschützt, dass in unser Haus eine Kakerlake kriecht. Oder durchs Fenster eine Fliege fliegt", sagt der blonde Mann, während neben ihm das Ungeziefer in aufwendigen technischen Effekten zu bedrohlicher Größe anschwillt.
Jeder jedoch kenne die Mittel gegen die Insekten: Fliegenklatsche und Pantoffeln. "Was sollen wir aber tun, wenn die Kakerlake zu mächtig erscheint und die Fliege übertrieben aggressiv?", fragt der Mann, während nebenan kaukasische Kämpfer auftauchen und ein vermummter, aggressiver Attentäter hereinstürmt. Dann hört man Schüsse, die den Vermummten zu Boden strecken. "In diesem Fall", sagt der Blonde, "empfehle ich eine Pistole."
"Kein Gewissensgefangener"
Das Video stammt von der "nationalen russischen Befreiungsbewegung Narod", übersetzt: Volk. Und der blonde junge Mann, der in dem Clip aus dem Jahr 2007 die Forderung seiner Partei nach legalem privatem Waffenbesitz auf drastische Weise unterstreicht, ist niemand Geringerer als Alexej Nawalny, heute als großer Gegenspieler von Russlands Präsident Wladimir Putin, als Anti-Korruptions-Kämpfer und als Aufdecker bekannt - und als politischer Gefangener des Kreml-Chefs.
Willst du diesen Inhalt sehen? Gib den anderen Cookies grünes Licht.
Dass die Vita Nawalnys nicht ganz unbefleckt ist, ist zwar nicht neu. Neben seinem mutigen Kampf gegen Putins Autokratie rückte die Frage nach der politischen Verortung des 44-Jährigen in den vergangenen Jahren aber in den Hintergrund. Bis vergangene Woche, als ein Schritt von Amnesty International bei Russlandkritikern für Ärger sorgte: Die Menschenrechtsorganisation, die sich für die Freilassung Nawalnys einsetzt, gab bekannt, dass sie den Kreml-Kritiker nicht länger als "Gewissensgefangenen" einstuft. Der Grund: Nawalny habe sich von seinen früheren Äußerungen, die "an der Grenze zur Verteidigung von Hass" gelegen seien, nie distanziert.
"Karies am gesunden Volkszahn"
Zwar habe der Putin-Gegner in den vergangenen Jahren offenbar keinerlei extremistische Äußerungen mehr getätigt (wie etwa jene in den "Narod"-Videos, wo er zentralasiatische Arbeitsmigranten als "Karies am gesunden Volkszahn" Russlands bezeichnete). Auch nimmt der 44-Jährige nicht mehr an nationalistischen Aufmärschen an der Seite von Rechtsextremen teil, wie er es bis Anfang der Zehnerjahre getan hatte.
Abgerückt ist Nawalny von seinen Behauptungen freilich nicht. Seine Videos hat er nicht gelöscht, in Interviews mit internationalen Medien erklärte er, noch hinter seinen Aussagen zu stehen - wenn sich der Putin-Rivale heute auch anders ausdrückt: Er erklärt, Russland brauche Einwanderung, allerdings geregelte, weshalb er auch für eine Visapflicht für Zentralasiaten einträte.
Topthema Einwanderung
Ist Nawalny also ein Wolf im Schafspelz, ein russischer Ethno-Nationalist? Bei näherem Hinsehen wird dieses Bild unscharf. Die politische Vita des Putin-Kritikers ist nämlich so schillernd und vielschichtig wie er selbst. Begonnen hat Nawalny seine Karriere in der linksliberalen, prowestlichen Jabloko-Partei des Liberalen Grigori Jawlinski. Dort wurde er 2007 ausgeschlossen - wegen Rechtsabweichlertums? Oder weil sich der damals schon selbstbewusste Rechtsanwalt dem dominanten Jawlinski nicht unterordnen wollte?
In den kommenden Jahren, bis 2013 etwa, trat Nawalny dann als Einwanderungskritiker auf - ein Thema, mit dem man damals in Russland punkten konnte: "Durch den Wirtschaftsaufschwung in den Nullerjahren gab es einen hohen Bedarf an günstigen Arbeitskräften. Vor allem viele Zentralasiaten suchten ihr Glück in Russland", sagt der Politologe Alexander Dubowy der "Wiener Zeitung".
Schwenk Richtung Antikorruption
"Der Kreml hatte wenig Interesse, diese Migration zu begrenzen - aus geopolitischen Gründen: Schließlich hätte etwa eine Visapflicht die zentralasiatischen Staaten, mit denen man doch über eine Zollunion und die Eurasische Wirtschaftsunion Partnerschaften eingegangen war, von Russland entfremdet", analysiert der Russland-Experte von der Universität Wien.
Geschadet hat Nawalny sein migrationskritischer bis ausländerfeindlicher Kurs jedenfalls nicht: Im Jahr 2013 erreichte er bei der Moskauer Bürgermeisterwahl mit etwa 27 Prozent den zweiten Platz - ein gewaltiger Erfolg. Damit etablierte er sich als führender Kopf der Opposition gegen Putin. Von da an freilich änderte Nawalny seinen Kurs und schwenkte auf sein heutiges Markenzeichen, die Aufdeckung von Korruptionsfällen in der russischen Elite, um. Seit 2013 tätigte der Kreml-Kritiker kaum noch rechtspopulistische Aussagen.
Schwer greifbare Aussagen
Umstritten blieb sein Auftritt gleichwohl: "Wo Nawalny politisch steht, weiß man nicht. Es ist möglich, dass er ideologisch einfach eine Art Opportunist ist, der sich jene Positionen zu eigen macht, von denen er glaubt, dass sie in der Bevölkerung den größten Rückhalt haben", sagt der Politologe Gerhard Mangott der "Wiener Zeitung". So sei etwa sein Wirtschaftsprogramm sehr populistisch: Der Kreml-Kritiker fordere die Anhebung von Mindestlöhnen und Pensionen, eine Strafsteuer für Unternehmen, die sich in den 1990er Jahren bereichert haben, sowie Steuererleichterungen für kleine und mittlere Firmen - Forderungen, die sich so wohl nur schwer realisieren lassen.
Außenpolitisch sei sein Kurs noch weit weniger fassbar: "2008, während des russisch-georgischen Krieges, war Nawalny weit radikaler als die russische Führung und forderte die Besetzung Georgiens. Dafür tritt er in der Krim-Frage für ein Referendum unter internationaler Kontrolle ein, das entscheiden soll, ob die Halbinsel zu Russland oder der Ukraine gehört. Und die Syrien-Intervention bezeichnete er als Vergeudung von Geld in einem Gebiet, in dem Russland keine vitalen Interessen besitze. Einmal ist er Expansionist, dann spricht er wieder davon, dass Russland die Sonderrolle, die ihm Putin und seine Getreuen zuweisen, hinter sich lassen und ein "normaler Staat" werden soll", analysiert Mangott.
"Kein Vaclav Havel"
Nur eines, so der Russland-Kenner, wisse man bei Nawalny genau: "Dass er das Putin’sche System stürzen und selbst die Macht übernehmen will. Er sieht das als seine Mission an".
Ausgeprägten Willen zur Macht und autoritäre Züge attestiert dem inhaftierten Oppositionellen auch Dubowy. Wie Mangott ist auch er überzeugt, dass es sich bei Nawalny nicht um einen liberalen Demokraten westlichen Zuschnitts handelt: "Er wäre, würde er regieren, kein Vaclav Havel. Eher ein autoritärer Modernisierer wie Singapurs Langzeit-Premier Lee Kuan Yew, der mit Methoden von oben herab letztlich eine Demokratie ermöglicht hat."
Auch außenpolitisch solle sich der Westen von Nawalny, wäre er Präsident, nicht zu viel erwarten: "Nawalny ist ein russischer Politiker, er würde als Präsident russische Interessen und nicht die des Westens vertreten. Einen echten Honeymoon mit dem Westen wird es nicht geben."
Normalität statt Nostalgie nach dem Imperium
Nawalnys Nationalismus relativiert Dubowy: Erstens habe er sich von gewaltbereiten Neonazis stets distanziert und sich für seine Aussagen gegenüber Georgien entschuldigt. Und zweitens funktioniere Politik in Russland (wie generell in Osteuropa und in weiten Teilen der Welt) anders als im diesbezüglich hoch sensibilisierten Westen: 2005 sei beispielsweise auch der prowestlich-liberale Putin-Gegner Garri Kasparow für eine Zusammenarbeit mit den Nationalisten eingetreten. Diese hatten auch immer wieder an dessen Demonstrationen teilgenommen.
"Worum es Nawalny geht, ist, dass Russland die postsowjetische Nostalgie nach dem Imperium, für die Putin steht, überwindet", sagt Dubowy. "Sein Ziel ist die Schaffung eines ‚normalen‘ Nationalstaats, wie er in Europa schon länger existiert. Nawalny bezeichnet sich als Nationaldemokrat. Extremist ist er keiner."