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Die vierte Menschenlinie

Von Roland Knauer

Wissen

Fingerknochen gibt Aufschluss über eine bisher unbekannte Menschenlinie. | Lebte vor rund 40.000 Jahren gleichzeitig mit modernen Menschen und Neandertalern in Sibirien. | Leipzig/Wien. Man sollte Svante Pääbo und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Bence Viola von der Universität Wien nicht einmal den kleinen Finger reichen, ohne mit einem mittleren Erdbeben unter Forschern der Menschheitsentwicklung zu rechnen.


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Die Spezialisten für altes Erbgut nehmen nicht etwa gleich die ganze Hand, sondern wirklich nur das vorderste, kleinste Fingerglied. Darin aber finden sie Hinweise auf eine bisher völlig unbekannte Menschenlinie, die vor rund 40.000 Jahren ungefähr gleichzeitig mit modernen Menschen und Neandertalern im Altai-Gebirge des südlichen Sibiriens lebte. Mit den kleinen Hobbit-Menschen auf der Insel Flores lebten damals also mindestens vier Linien der Gattung Mensch in Eurasien, von denen heute nur noch der "moderne Mensch" Homo sapiens existiert.

Platz für eine ganze Sippe

Bei einer Ausgrabung 2008 hatten russische Forscher ein kaum zwei Zentimeter langes Knöchelchen in der Denisowa-Höhle im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens gefunden, das ungefähr auf dem gleichen Breitengrad wie das Ruhrgebiet in Deutschland liegt. Seit 125.000 Jahren schätzten Menschen diese Unterkunft, die mit 33 Metern Länge und elf Metern Breite hoch über einem Fluss Platz für eine ganze Sippe bot. Neben Steinwerkzeugen und Schmuck finden die Forscher dort immer wieder auch kleine Knochen oder Zähne, jedoch bisher nichts, aus dem man eine Menschenlinie hätte ableiten können.

Rein äußerlich unterscheidet sich der Knochen aus der Kuppe des kleinen Fingers eines jungen Menschen, wenn nicht gar Kindes aus dieser Höhle kaum vom gleichen Knochen eines modernen Menschen oder Neandertalers, von denen einige weniger als 100 Kilometer entfernt lebten.

"Bei uns blieb der Knochen dann auch erst einige Monate liegen, bevor wir ihn unter die Lupe nahmen", erinnert sich Svante Pääbo. Der in Stockholm geborene Wissenschafter ist weltweit wohl der renommierteste Spezialist für Erbgut aus Fossilien. Aus diesem Grund schickten die Forscher aus Nowosibirsk den zwischen 30.000 und 48.000 Jahre alte Fingerkuppenknochen auch nach Leipzig.

Aus 30 Milligramm Knochenmehl isolierte Johannes Krause dann zunächst einmal das mtDNA genannte Erbgut aus den Mitochondrien - kleine Organellen, die für die Energieversorgung innerhalb von Zellen zuständig sind. Als er die Sequenz der Bausteine dieser Erbsubstanz mit jener von menschlicher mtDNA verglich, verschlug es ihm den Atem: 385 der 16.569 Bausteine waren verändert. Das sind fast doppelt so viele Veränderung wie zwischen der mtDNA eines Neandertalers und eines modernen Menschen.

Nun wissen Svante Pääbo und Johannes Krause aus Fossilien und DNA-Analysen, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Neandertaler vor 450.000 Jahren lebte. (Schimpansen und Menschen gehen dagegen seit sechs Millionen Jahren eigene Wege.) Aus den 385 veränderten Bausteinen der mtDNA des jungen Menschen aus der Denisowa-Höhle konnten die Paläomolekularbiologen ausrechnen, dass der letzte gemeinsame Vorfahre zwischen dieser Linie und den modernen Menschen vor rund einer Million Jahren lebte.

Die bisher bekannten Menschenlinien entwickelten sich jedoch alle im Osten Afrikas. Von dort wanderten sie in Wellen in die Regionen Europas und Asiens aus. Die erste Welle stellte vor 1,9 Millionen Jahren der Frühmensch Homo erectus. Eine weitere Welle brach in der Zeit vor 500.000 bis 300.000 Jahren auf und erreichte Asien und Europa - aus ihr gingen die Neandertaler hervor. Vor 50.000 Jahren starteten die modernen Menschen als letzte Welle aus Ostafrika.

Lange davor aber war vor vielleicht einer Million Jahren die jetzt entdeckte Linie aufgebrochen, die schließlich auch das Altai-Gebirge im Süden Sibiriens erreichte. Vor rund 40.000 Jahren lebten dann mit den modernen Menschen, den Neandertalern und dem neuen Fund gleich drei Menschenlinien im Altai-Gebirge. Das Knöchelchen gibt den entscheidenden Fingerzeig auf eine bisher völlig unbekannte und überraschend bunte jüngere Vergangenheit der Menschheitsgeschichte.