Die afghanischen Streitkräfte kommen an vielen Fronten immer stärker unter Druck.
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Kabul/Wien. Sahra Mosawi wundert sich oft. "Vergangene Nacht hob mich ein Erdbeben aus den Federn, und heute morgen werde ich von einer Explosion am Flughafen geweckt", schreibt die afghanische Dokumentarfilmerin auf Facebook. "Aber die Vögel draußen vor meinem Fenster zwitschern trotzdem. So ist nun mal das Leben in unserem staubigen Kabul..." Wobei der Staub durch Anschläge und Kämpfe nicht nur in der Hauptstadt Afghanistans aufgewirbelt wird. Seit einem Jahr nun sind die Nato-Kampftruppen abgezogen, die von 140.000 rund 9800 verbliebenen Soldaten sind nur mehr in der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte tätig und nicht mehr im Feld, wo die Afghanen selbst den Kampf gegen die Taliban übernommen haben. Trotz großer Investitionen in lokale Armee und Polizei ist die Bilanz ernüchternd. Das durch den Abzug entstandene Sicherheitsvakuum wussten die Radikalislamisten offenbar schnell zu nutzen. Rund 30 Prozent der afghanischen Distrikte kontrollieren die Taliban mittlerweile wieder - oder verfügen dort über eine signifikante Präsenz.
Schockwellen durch das ganze Land sandte heuer etwa die - kurzzeitige - Eroberung der Provinzhauptstadt Kunduz durch die Islamisten im September. Aktuell versucht das Militär, die Provinz Helmand zurückzuerobern. Die Zentralregierung kann dort momentan lediglich die Kontrolle von drei der 14 Distrikte behaupten. In den vergangenen sieben Monaten überrannten Taliban-Kräfte immer mehr Gebiete der südlichen Provinz, die davor in langen und verlustreichen Kämpfen von US- und britischen Truppen von den Islamisten befreit worden waren.
Dies liegt einerseits an der schwachen Führung der afghanischen Streitkräfte, an Korruption, Fahnenflucht und "Geistersoldaten", deren Gehälter von betrügerischen Kommandeuren eingestreift werden, schreibt Borhan Osman vom Kabuler Think Tank "Afghanistan Analysts Network" in einer Analyse. Gleichzeitig würden die Taliban aber auch mehr Kräfte zur Eroberung von Helmand einsetzen, da sie die Provinz als strategisch wichtig erachten.
Helmand als Sprungbrett
Einerseits, da in Helmand das meiste Opium im Land produziert wird und das Drogenbusiness traditionell eine wichtige Rolle für ihre Finanzierung spielt. Heute gilt dies, so Borhan, noch mehr, da nun weniger Erpressungsgelder zu lukrieren sind und vermögende Geldgeber aus den Golfstaaten begonnen haben, ihr Geld an militante Gruppen näher deren Heimat auszuschütten. Helmand sei aber auch interessant, da die Provinz geografisch günstig liegt mit schnellen Fluchtrouten nach Pakistan und in den Iran, dort ein großer Teil der Bevölkerung - so wie Taliban-Führer Akhtar Mansour - dem Ishaqzai-Stamm angehört und sie daher auf großen Rückhalt in der Bevölkerung zählen können.
So könnte die Provinz als Sprungbrett in andere Gebiete genutzt werden und könnten die Taliban ihren Traum eines sicheren Hafens für ihre wichtigsten Kommandeure realisieren. Kürzlich berichtete Reuters, dass heute lediglich ein Spionage-Luftschiff über der Provinz schwebt - früher beobachteten die Nato-Truppen die Bewegungen der Kämpfer mit 60 solcher Luftschiffe.
Helmand und der Norden rund um Kunduz sind jedoch nicht die einzigen Frontabschnitte. Die afghanischen Sicherheitskräfte kämpfen auch im Bezirk Sarobi 100 Kilometer östlich von Kabul mit den Islamisten, genau so wie in Bezirken im Norden oder in der östlichen Provinz Nangarhar, wo sich vor allem Gruppen, die dem Islamischen Staat die Treue geschworen haben, etabliert haben. "Die allgemeine Bedrohungslage in Afghanistan ist stark steigend ohne ausreichende Eindämmung", heißt es in einer Analyse der Washingtoner Denkfabrik "Institute for the Study of War".
So ist es wenig verwunderlich, dass General John Campbell, Oberkommandant der US- und Nato-Truppen in Afghanistan, eine Truppen-Aufstockung nun nicht mehr ausschließt. Auch der deutsche Bundestag stoppte Mitte Dezember den Abzug deutscher Soldaten, da man ein Ende des Einsatzes aktuell nicht für absehbar halte. Und Russland erklärte am Mittwoch, es plane im Jänner Waffenlieferungen an Kabul, um so zur Stabilisierung der Lage beizutragen.
Die Afghanen selbst sind ob der Situation stark beunruhigt, was nicht zuletzt an den steil ansteigenden Zahlen an Flüchtlingen zu erkennen ist. Baqi Faryar, 52-jähriger Angestellter aus Kabul, befürchtet noch bis ins nächste Jahr andauernde harte Gefechte. Für den Herbst hat Präsident Ashraf Ghani nun die längst überfälligen Parlamentswahlen angekündigt. Bis dahin, glaubt Faryar, werde es viele Bemühungen der Regierung zur Rückeroberung der Gebiete geben, aber auch Versuche der Taliban, diese zu torpedieren. Er, selbst als Sozialaktivist tätig, habe aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben. "Ich kämpfe dafür, dass die Taliban auf dem Müllhaufen der Geschichte landen", sagt er. Dann endlich, würde sich niemand mehr in Kabul darüber wundern, dass die Vögel morgens singen.