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Die Vorteile der Abhängigkeit

Von Stefan Brocza

Gastkommentare

Gastkommentar: EU-Restkolonien bekamen bei Hurrikan "Irma" schnelle Hilfe der Mutterländer.


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Nach den Spuren der Verwüstung, die der Hurrikan "Irma" durch die Karibik gezogen hat, zeigt sich, dass es manchmal doch von Vorteil ist, wenn man ein großes Mutterland noch in der Hinterhand hat. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eilte seinen französischen Brüdern und Schwestern in der Karibik umgehend zur Hilfe, der niederländische König machte sich auf den Weg in "seine" Karibik und selbst das vormalige britische Empire schickte seinen illustren Außenminister Boris Johnson zu den europäischen Außenposten.

Bekanntlich gibt es zwei Arten von EU-Restkolonien: Einerseits die "Überseeischen Länder und Gebiete" - diese sind keine unabhängigen Staaten. Trotz unterschiedlicher Formen von (Semi-)
Autonomien übernimmt ihr jeweiliges EU-Mutterland die Außenvertretung und Alimentation. Sie sind nicht Teil der EU, fallen aber unter das Instrument der Assoziierung. Ihre Bewohner haben in der Regel die Staatsbürgerschaft des Mutterlandes und sind daher auch EU-Bürger, mit dem Recht auf Personenfreizügigkeit.

Die zweite Gruppe von Überseegebieten sind "Ultraperiphere Regionen" und "Gebiete in äußerster Randlage". Diese sind jeweils vollständige Teile eines EU-Staates und nehmen daher voll am politischen Leben in Europa teil, wählen Volksvertreter in die nationalen Parlamente und unterstehen dem EU-Recht. Die Finanzierung von Projekten erfolgt aus den üppig dotierten Töpfen der EU-Strukturfonds und der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Die EU-Gebiete in äußerster Randlage sind ungeachtet ihrer geografischen Abgelegenheit fester Bestandteil des Binnenmarktes.

US-Bürger zweiter Klasse

In der Karibik gibt es beide Formen: drei französische "Gebiete in äußerster Randlage" (Martinique, Guadeloupe und Saint-Martin) und 13 "Überseeische Länder und Gebiete" (etwa Aruba, Curaçao, die Britischen Jungferninseln, Bermuda). Im Fall des Hurrikans "Irma" aktivierte die EU ihr Satellitenortungssystem Copernicus zur besseren und rascheren Bewertung, wohin sich der Sturm bewegt. Gleichzeitig wurden diverse Notfallpläne aktiviert und erste Hilfsgelder freigegeben, noch ehe der Sturm vorüber war. Die EU hat nämlich Erfahrung im Umgang mit Naturkatastrophen in der Karibik, neben den regelmäßig wiederkehrenden Hurrikans wird da dann auch schon einmal nach einem Vulkanausbruch (Montserrat) eine gesamte Insel wieder aufgebaut.

Dass nicht alle "Kolonialmächte" so großzügig sind, zeigten die USA nur ein paar hundert Kilometer weiter ihrem größten und einwohnerreichsten Außengebiet Puerto Rico. Nicht nur, dass die dortigen Bewohner Bürger zweiter Klasse sind - sie dürfen etwa den US-Präsidenten nicht wählen und haben zwar Abgeordnete im Repräsentantenhaus, die aber nicht abstimmen dürfen -, lassen die USA ihre Restkolonie auch wirtschaftlich im Stich. Eine verfehlte Wirtschaftspolitik hat zum Quasi-Staatsbankrott geführt, und Puerto Ricos zahlungsunfähige Stromgesellschaft kann die Sturmschäden nicht reparieren.

Die oft vergessenen EU-Restkolonien in der Karibik profitieren gerade immens von ihrer bewussten Entscheidung gegen die Unabhängigkeit. In stürmischen Zeiten ist es offensichtlich ein unbezahlbarer Vorteil, Teil einer größeren, wirtschaftlich bedeutenden Macht zu sein. Vielleicht lässt sich daraus erklären, warum etwa die britischen Überseegebiete auch nach dem Brexit unbedingt ihre privilegierte Assoziierung mit der EU behalten wollen. Denn der nächste Hurrikan kommt bestimmt.