Sowohl in Israel als auch in Gaza glaubt kaum jemand, dass das Schweigen der Waffen von langer Dauer ist.
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Tel Aviv. Nur etwa acht Stunden lagen zwischen dem Anschlag in Tel Aviv und dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas, der am Mittwoch um 21 Uhr Lokalzeit in Kraft getreten ist. In den Stunden danach lauschten die Menschen auf beiden Seiten gebannt und in der Hoffnung, dass die Ruhe nicht doch noch von einer palästinensischen Rakete oder einem israelischen Angriff überschallt wird. Doch sie hielt, die Waffenruhe.
Statt Explosionen gab es im Gazastreifen anderen Lärm zu hören: Freudenschüsse und ein Feuerwerk. Denn die Hamas und andere am Kampf beteiligte Gruppen feierten den "Sieg". Dass das Freudenfeuer einen Mann getötet hat, machte nach mehr als 150 Toten im Gazastreifen keine Schlagzeilen mehr. Auf der israelischen Seite hat die Eskalation insgesamt sechs Menschen getötet, unter ihnen vier Zivilisten, mehr als 200 wurden verletzt. Der jüngste Gaza-Israel Krieg scheint vorerst beendet.
"Israels Abenteuer ist fehlgeschlagen", jubelte der Hamas-Führer Khaled Meshaal in Kairo. Trotz der hohen Opferzahl beanspruchte Meshaal den Waffenstillstand nach acht Tagen Gewalteskalation als Sieg. Ein großer Teil der Bevölkerung im Gazastreifen schien diese Ansicht trotz der Opfer zu teilen. Der Erfolg des bewaffneten Kampfes sei ein Zeichen dafür, dass nur Widerstand das palästinensische Volk weiterbringen würde, sagte Meshaal. "Wenn Israel das Abkommen einhält, werden wir das auch tun. Wenn sie das nicht tun, haben wir unsere Finger am Abzug."
Auch der israelische Generalleutnant Benny Gantz sagte am Donnerstag, dass Israel nicht angreifen werde, solange die Hamas das auch nicht tut. "Wenn nichts mehr aus dem Gazastreifen kommt, wird es ruhig bleiben", so Gantz. "Es ist noch zu früh zu sagen, was in den nächsten Monaten passieren wird." Im offiziellen Israel war ebenfalls klar, dass man gewonnen hat. "Viele Terroristenführer wurden getötet und tausende Raketen zerstört", kommentierte der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu. Doch viele Israelis in den am schwersten betroffen Städten wollten das schnelle Ende trotz der Erleichterung noch nicht anerkennen, weil sie darin eine Kapitulation Israels an die Hamas sehen.
"Das war nicht der Schluss, auf den wir gehofft hatten. Die Ruhe wird wohl nur für kurze Zeit halten", sagte der Bürgermeister der Stadt Ashdod in einer Stellungnahme. Während der Anschlag in Herzen von Tel Aviv am Mittwoch noch Angst und Wut in der Bevölkerung schürte, war am Donnerstag bereits sichtliche Erleichterung zu spüren. Nur das Heulen von Polizei und Rettungssirenen weckte zwischenzeitlich die Erinnerung an die Raketenangriffe.
Israels Kabinett war uneins
Die Hamas hatte schon am Dienstag verfrüht einen Durchbruch der Verhandlungen um einen Waffenstillstand verkündet, obwohl die israelische Regierung noch nicht zugestimmt hatte. Was danach folgte, war ein diplomatischer Blitzkrieg. Während die US-Außenministerin Hillary Clinton in weniger als 24 Stunden zwischen Jerusalem, Ramallah und Kairo hin und her eilte, befand sich die israelische Regierung im internen Streit. Denn im von Ägypten vermittelten Entwurf des Abkommens stand neben dem Ende der Kampfhandlungen auch die Forderung der Hamas an Israel, die seit 2006 geschlossenen Grenzübergänge für den Personen und Güterverkehr zu öffnen. Aus Sicht der israelischen Regierung hat der Entwurf klar die Hamas begünstigt. Doch letztlich entschloss sich das Kabinett nach heißen Debatten, dem Abkommen doch noch zuzustimmen.
"Einen Tag nach dem Waffenstillstand wird sich niemand mehr an das erinnern, was im Entwurf stand. Was zählen wird, ist der Schaden, den die Hamas erlitten hat", habe Verteidigungsminister Barak laut der Zeitung "Haaretz" seinen Ministerkollegen eingetrichtert. Neben der internen Diskussion war am Donnerstag auch der US-Druck auf Israel entscheidend. Clinton sicherte weitere Gelder für das Raketenabwehrsystem "Eiserne Kuppel" zu und versprach Druck auf Ägypten auszuüben, damit der Waffenschmuggel nach Gaza unterbunden wird.
Seit Jahren hatte die Hamas um internationale Anerkennung gekämpft und jüngst alle Karten auf die Gunst des ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi gesetzt, unter dessen Führung Ägypten zum zentralen Broker und Sicherheitsgarant im Nahostkonflikt herangewachsen ist. Angesichts des Bürgerkriegs in Syrien, der mit Israel verfeindeten Hisbollah im Libanon und der Bedrohung durch den Iran muss sich Israel auf Ägypten stützen. So auch die Hamas, die mit viel Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung aus der Krise hervorgeht. Auch die Arabische Liga und vor allem immense Finanzspritzen aus Katar für den Wiederaufbau geben der islamistischen Partei zusätzlichen Aufwind.
Abbas oder Hamas?
Die Stärkung der Hamas nach der Eskalation ist hierbei als Fortsetzung des Arabischen Frühlings mit anderen Mitteln der Gewalt zu verstehen. Gleichzeitig drängt dieser Erfolg die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland und deren Präsidenten Mahmud Abbas weiter an den Rand. Abbas wird am 29. November mit dem Antrag um UN-Mitgliedschaft einen weiteren symbolischen Akt setzen, der von der palästinensischen Bevölkerung mit viel Zynismus aufgenommen wird. Sollte es wirklich zu einer Grenzöffnung zwischen Israel und Gaza - und damit zu einer Annäherung - kommen, könnten diplomatische Anstrengungen auch dem Nahost-Friedensprozess wieder Aufwind geben. Besonders, wenn die ambitionierte Zusammenarbeit zwischen Ägypten und den USA fortgesetzt wird. Die Frage wird dann nur sein, wer die palästinensische Seite vertritt: Mahmud Abbas, die Hamas, oder beide gemeinsam?