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Als in der Nacht zum Donnerstag im Stundenabstand nach 36-tägiger Verspätung zuerst Vizepräsident Al Gore und der nun gewählte neue Präsident George W. Bush in Washington und Austin ihre Niederlage eingestanden bzw. ihre Siegeransprache hielten, war nichts so, wie man es von früheren Anlässen gewohnt war. Aus dieser zweitlängsten Wahl der US-Geschichte - nur 1876/77 dauerte es länger, bis der neue Präsident feststand - ging zwar George W. Bush als Sieger hervor, musste aber zur Kenntnis nehmen, dass er um 337.576 Stimmen weniger erhalten hatte als der Wahlverlierer Al Gore. Er wird daher seit 112 Jahren der erste Präsident sein, der praktisch als "Wahlverlierer" ins Weiße Haus einzieht.
Verholfen hat ihm dazu ein umstrittener Spruch des Höchstgerichtes, der mit der knappen Mehrheit von 5:4 gefallen ist. Erstmals überhaupt hat sich das Höchstgericht in eine Präsidentenwahl eingemischt. Beobachter sprechen bereits davon, dass die Höchstrichter damit die Büchse der Pandora geöffnet haben und die Auswirkungen auf künftige Wahlen unübersehbar sind. Es ist bezeichnend, dass einer der Höchstrichter in seinen Bemerkungen zum Urteil festgehalten hat, dass es falsch war, diesen Fall überhaupt anzunehmen. Und ein anderer hat bemerkt, das man wohl nie wissen werde, wer die Wahlen wirklich gewonnen habe, dass aber das Vertrauen der Nation in die Richter als unparteiische Wächter der Rechtsstaatlichkeit ernstlich ramponiert ist.
Sowohl Gore, der nach Meinung aller die beste Rede seiner politischen Karriere gehalten hat, als auch Bush waren in ihren Ansprachen darum bemüht, die Wunden der letzten Wochen zu heilen. Obwohl er mit der Entscheidung der Höchstrichter überhaupt nicht einverstanden sei, werde er sie akzeptieren, betonte der scheidende Vizepräsident, der mit dieser Rede nach Ansicht vieler Beobachter möglicherweise das Fundament für eine weitere Kandidatur im Jahre 2004 gelegt hat. "Gore for four" (Gore für 2004) skandierten seine Anhänger, als er die Rede beendet hatte.
Bush wiederum hatte das demokratisch beherrschte Abgeordnetenhaus seines Bundesstaates Texas als Bühne für seine Rede gewählt, wurde vom demokratischen Sprecher des Parlaments als Freund bezeichnet und bemühte sich, seine Hand auszustrecken. Er enthielt sich aller triumphaler Gesten, äußerte viel Verständnis für seinen Gegner bei der Wahl und rief wie Gore zu Versöhnung und Einheit des Landes auf. "Ich wurde gewählt, um der Nation zu dienen, nicht nur einer Partei", sagte er wörtlich.
Es wird aber nicht nur versöhnlicher Worte bedürfen. Denn bei der Wahl hat sich eine klare Spaltung des Landes gezeigt. Im Repräsentantenhaus führen die Republikaner nur knapp und im Senat steht es 50:50. Bush wird bei der Bestellung seiner Regierung diese Tatsache im Auge behalten müssen und die ersten Gespräche, die er in den fünf Wochen nach der Wahl geführt hat, deuten auch darauf hin, dass er mit der Aufnahme von demokratischen Politikern in sein Kabinett die Lage entschärfen möchte.