Erkenntnisse der Wissenschaft beanspruchen oft nur kurzfristig Gültigkeit.
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Semmering. Gibt es "Wahrheit in den Wissenschaften"? Dieser Frage widmet sich der heute, Samstag, zu Ende gehende alljährliche Österreichische Wissenschaftstag 2014 der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) auf dem Semmering.
Eine Antwort darauf nahm schon in seiner Begrüßung der Chemiker Wolfgang Kautek, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der ÖFG, vorweg, indem er ein Schreiben des Verhaltensforschers Kurt Kotrschal vorlas. Darin hieß es mit Zitierung des amerikanischen Evolutionsbiologen Stephen J. Gould, Wahrheit in der Wissenschaft gebe es nicht, dazu müsse man sich "an die Pfaffen oder Politiker" halten. Der Wahrheitsbegriff, so Kotrschal, komme aus der Philosophie, nicht von den Naturwissenschaftern, deren valide Aussagen großteils mit "Irrtumswahrscheinlichkeiten" verbunden seien.
Wie schwer es auch sie als Philosophen mit dem Wahrheitsbegriff haben, führten dann Volker Gadenne (Uni Linz) und Josef Mitterer (Uni Klagenfurt) vor Augen. Gadenne ging vor allem auf die auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurückgehende Kompetenztheorie ein, wonach eine Aussage dann wahr ist, wenn sie auf die Wirklichkeit zutrifft. Bestenfalls erreichbar sei aber nur Wahrheitsnähe, ein "fallibilistischer Realismus", der nur fehlbares, vorläufiges Wissen in Anspruch nehme.
Auf dieser Linie lag für Gadenne Karl Popper, dessen Position er - mit den Kürzeln E (für empirische Befunde) und T (für Theorie) - so zu formulieren versuchte: "Wenn T durch E hochgradig bestätigt wird, und wenn E zugleich den mit T konkurrierenden Theorien widerspricht, dann ist es rational gerechtfertigt, T vorläufig für die Theorie zu halten, die der Wahrheit am nächsten kommt."
Aus Mitterers Sicht hat Wahrheit im Alltag der Wissenschaft geringen Stellenwert, spannend werde die "Wahrheitsrhetorik" nur bei Konflikten. Für ihn, der sich zu einem schwachen, relativistischen Wahrheitsanspruch bekennt, werden Objekte (also die Wirklichkeit oder die Welt) als die Summe der bisher ("so far") erfolgten Beschreibungen definiert, doch eine neue Beschreibung ("from now on") ändere das Objekt der Beschreibung.
Naturwissenschafter sprechen statt von der Wahrheit eher vom Stand ihrer Erkenntnisse. Der Kognitionsbiologe Ludwig Huber vom Messerli-Forschungsinstitut der Wiener Veterinärmedizinischen Universität erläuterte anhand der Evolutionären Erkenntnistheorie die Erkenntnisfähigkeit, die, wie Experimente mit Tauben zeigten, nicht nur genetisch bedingt, sondern auch erlernbar ist.
Mit einer Liste von Formeln wies der Physiker Daniel Grumiller (Technische Universität Wien) auf messbare Fortschritte in seinem Fach hin. So seien die Standardmodelle der Teilchenphysik und der Kosmologie "konsistent mit fast allem, was wir in der Natur beobachten". Von den fehlenden Puzzlesteinen habe man das Higgs-Teilchen nun entdeckt, wenn das noch gesuchte Graviton (der Träger der Gravitationskraft) existiere, werde man es auch noch in dieser Dekade finden. Freilich seien bisher nicht einmal fünf Prozent des Universums bekannt, Dunkle Materie und vor allem Dunkle Energie bleiben riesige Forschungsgebiete.
"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." An diesem Satz, den der damalige Staatschef der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, 1989 in der DDR ausgesprochen haben soll, stellte der Düsseldorfer Historiker Achim Landwehr dar, wie schwierig das Verhältnis von Wahrheit und Geschichtsschreibung ist. Denn wörtlich hat sich Gorbatschow so nicht geäußert, nur sein Pressesprecher hat ähnliche Aussagen von ihm in diese Formulierung gebracht.
Der Salzburger Politologe Reinhard Heinisch sieht heute die Gefahr von "uninformierten Entscheidungen" durch die Politik. Die Legitimität des politischen und sozialen Systems werde untergraben, wenn man unterschiedliche Wahrheitsbehauptungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften als gleichwertig betrachte und sage, die Wahrheit liege irgendwo in der Mitte. Doch die Mitte zwischen Wahrheit und Falschheit sei "nur die Halbwahrheit".