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Die Wahrheit ist zumutbar, auch dem Islam

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Warum die muslimische Welt nicht um die Frage herumkommt, wie kompatibel ihre Religion mit der Moderne wirklich ist.


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Es war eine elegante Geste, mit der ausgerechnet Joseph Schuster, der neue Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, die deutschen Muslime vor antiislamischen Tendenzen in Schutz nehmen wollte. Die Angst vor islamistischem Terror, meinte er im Interview mit der "Welt", werde "instrumentalisiert, um eine ganze Religion zu verunglimpfen". Das sei inakzeptabel.

Schuster sprach damit aus, was in Deutschland und Österreich gleichsam das allgemein akzeptierte Fundament für den Umgang mit den Muslimen im Land ist: die Annahme, dass eine verschwindende und letztlich irrelevante Minderheit Radikaler eine Religion missbraucht, deren Anhänger in ihrer überwältigenden Mehrheit mit Islamismus absolut nichts am Hut haben.

Das Problem mit diesem bequemen Narrativ ist, dass es den Anhängern des Islam eine für sie unerquickliche Diskussion erspart: Ob nicht vielleicht doch der türkische Staatspräsident - und gläubige Moslem - Recep Tayyip Erdogan irgendwie recht hat, wenn er behauptet, es gäbe in Wirklichkeit "keinen Islamismus, sondern nur einen Islam". Weshalb sich natürlich als Nächstes die Frage stellt, ob nicht bestimmt Aspekte des Islam - wie etwa sein allumfassender Anspruch, sein behaupteter Vorrang demokratischen Verfassungen gegenüber, seine missionarische Dynamik - ursächlich für vieles sind, was in seinem Namen verübt wird.

Wer sich dieser Frage ehrlich stellt, kommt natürlich schnell auf schlüpfriges Terrain, wo zwischen redlichen Diagnosen und handfesten Ressentiments oft unübersichtliche Grenzen verlaufen. Doch ohne diese Frage nach der Kompatibilität eines orthodoxen Islam mit den Werten der Aufklärung und der Moderne zu beantworten, wird die muslimische Welt ihre evidenten Probleme nie lösen können.

Dazu kommt, dass der Verweis auf die friedfertige Natur der überwältigenden muslimischen Mehrheit zwar zutrifft, aber leider nicht weiter hilfreich ist. Denn auch die meisten Chinesen im Maoismus, Russen im Stalinismus und wohl sogar Deutschen im Nationalsozialismus waren keine blutrünstigen Bestien, sondern Menschen, die irgendwie überleben wollten und dabei duldeten, was nie hätte geduldet werden dürfen. Nur leider: Von dieser jeweiligen "friedfertigen Mehrheit" hatten die Opfer in den Arbeits- und Vernichtungslagern nichts. Diese Art von schweigender Mehrheit ist irrelevant, weil sie letztlich mehr Teil des Problems als der Lösung ist.

Fast täglich kam es vor Weihnachten irgendwo auf der Welt zu "islamistisch" inspirierten Anschlägen auf "Ungläubige"; in der islamischen Welt selbst werden jeden Monat tausende Menschen Opfer des religionsgetriebenen Terrors, womit die Muslime selbst die mit Abstand meisten Opfer zu beklagen haben.

Wenn aber gerade Juden in Europa immer öfter attackiert werden und hier kein sicheres, unbeschwertes Leben mehr führen können, dann wirkt die Behauptung des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland sehr nach entschlossenem Verdrängen eines Problems. Da stellt sich aber schon irgendwie die Frage: Was muss eigentlich noch geschehen in Europa, damit intelligente Männer wie Joseph Schuster Ross und Reiter benennen, anstatt die Augen vor der Realität zu verschließen?