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Die Medien haben sich nur auf einige Feministinnen in Kabul konzentriert. Ein Essay.
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Wenn ich über das Projekt des Westens, afghanische Frauen zu befreien, nachdenke, fällt mir eine Zeile von T.S. Eliot ein: "Die letzte Versuchung ist der größte Verrat, aus falschem Grund zu tun die rechte Tat." In Afghanistan haben wir 20 Jahre lang eine einmalig selbstgerechte, tragisch fehlgeleitete Mission geführt, die sich am besten mit der Umkehrung dieses zitierten Satzes ausdrücken lässt.
Wir taten das Falsche, vielleicht aus dem richtigen Grund. Wir wollten das Land entwickeln und afghanische Frauen retten. Deren Leben war die Hölle, Mädchen wurden von der Schule ausgeschlossen, Frauen wurde verboten, ihr Haus zu verlassen, es sei denn in Begleitung eines männlichen Wächters, Bürgerwehren verprügelten sie mit Stöcken, wenn ihre Burka zu kurz war. Wir wollten, dass sie in den Genuss der Freuden der Moderne kommen und ein erfülltes, glückliches Leben führen. Das haben wir, genauso wie die Staatenbildung, gründlich in den Sand gesetzt. Und statt neue Wege einzuschlagen, sind wir jetzt dabei, mit Anlauf den Schaden zu vergrößern.
Jetzt lautet unser Mantra: "Wir können die afghanischen Frauen nicht im Stich lassen." Und damit meinen wir: Wir müssen Visa ausstellen und sie evakuieren. Aber offensichtlich können wir nicht alle afghanischen Frauen ausfliegen. Die Übrigen überlassen wir, ganz auf sich gestellt, einem mittelalterlichen Regime - nachdem wir alle gebildeten, wohlhabenden, gut vernetzten und cleveren Leute abgeschöpft haben. Wir lassen sie in Armut und am Hungertuch nagend zurück, nachdem wir jene, die für die Nahrungsmittelprogramme und die Krankenhäuser gearbeitet haben, schnell ausgeflogen haben. Die US-Botschaft ist verrammelt. So, liebe Leute, sieht im Stich lassen aus.

Das traurige Geheimnis unseres großen afghanischen Befreiungsprojekts lautet: Als wir uns aufmachten, die afghanischen Frauen zu retten, hatten wir vom Wer, Wie und Warum keine Ahnung. Wir haben mit jenen zusammengearbeitet, die wir leicht finden und mit denen wir leicht interagieren konnten, Menschen aus der städtischen und weltläufigen Bevölkerungsschicht, jene, die uns durchschauten und unseren Bedarf an fotogenem Erfolg bedienen konnten. Diejenigen in den Slums und Dörfern haben wir nie erreicht. Selbst jetzt scheint uns nicht bewusst zu sein, dass "die afghanischen Frauen" keine Einheit bilden. Dabei unterscheiden sie sich je nach Lebensumständen, Einstellung und Einflussfaktoren so deutlich voneinander, als gehörten sie unterschiedlichen Spezies an.Ich schlage daher eine praktische Anleitung zu afghanischen Frauen vor. Beginnen wir mit der Gruppe, die sonst immer ins Hintertreffen gerät: den gewöhnlichen, durchschnittlichen, unterdrückten, übersehenen und ungeliebten Frauen, die die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung des Landes ausmachen. Sie sind afghanische Nachtigallen, die scheu hinter den Lehmwänden ihrer Behausungen hervorlugen, konturlose Silhouetten in graubrauner Kleidung, daran gewöhnt, übersehen und ausgeschlossen zu werden. Und im Besitz, das glaube ich, einer einzigartig schönen Stimme, wenn die Umstände nur je erlaubten, sie erklingen zu lassen.

1. Die unsichtbaren echten Frauen von Afghanistan
Der größte Teil der afghanischen Frauen gehört der armen Stadt- und Landbevölkerung an, und viele sind Binnenflüchtlinge, die in Lagern leben. Ihr Leben hat sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten kaum verändert - und schon gar nicht in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Die Kommunisten unternahmen den einzigen ehrlichen Versuch, ein verwurzeltes System zutiefst patriarchaler, stammesmäßiger und feudaler Unterdrückung zu reformieren. Die Vertreter dieses Systems leisteten dagegen Widerstand, und in unserem Eifer, die Sowjets auf diesem Stellvertreter-Schlachtfeld zu schlagen, haben wir dafür gesorgt, dass sie sich durchgesetzt haben.
Das Leben dieser Frauen ist trist und schwierig. Man bedauert, dass sie geboren wurden, ihre Mütter wurden dafür verachtet oder gar bestraft, keinen Sohn bekommen zu haben. Ihre Kindheit dient nur dazu, sie auf den Sklavendienst vorzubereiten. Zunächst sind sie ihren Brüdern zu Diensten, die dazu ermuntert werden, sie herumzubefehligen. Allzu bald ist es dann Zeit für die Heirat, oft werden sie mit einem Verwandten oder einem deutlich älteren Mann verheiratet, dem die Familie etwas Gutes tun will.
Es gibt keine Liebe, die ihr Los erträglicher machen könnte, und angesichts der getrennten Lebenswelten, die den Kontakt zwischen Mann und Frau auf ein grausames Minimum beschränken, hat sie kaum eine Chance, sich im Laufe der Zeit zu entwickeln. Das Ansehen einer Frau erhöht sich erst, wenn sie erwachsene Söhne hat; das gibt ihr das Recht, über ihre Schwiegertöchter zu bestimmen, die statt weiblicher Solidarität dann noch einen weiteren Tyrannen vorgesetzt bekommen.
Was wurde mit den zwei Billionen Dollar an Investitionen für diese Gruppe afghanischer Frauen erreicht, welche Verbesserungen ihres Lebensstandards? Achtung, Spoiler: Nicht viel. Laut Unicef ist die Hälfte aller Todesfälle afghanischer Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren auf unbehandelte Komplikationen bei Schwangerschaft oder Geburt zurückzuführen - das sind Statistiken, die direkt aus dem Mittelalter kommen könnten. 2017 erklärte Ärzte ohne Grenzen, Afghanistan sei einer der gefährlichsten Orte, um ein Kind zu bekommen. Das ist das Ergebnis von mehr als 15 Jahren westlicher Projekte und Investitionen.
Und wie steht es mit dem allgemeinen Lieblingsthema Bildung? Keine öffentliche Rede zu Afghanistan kam aus, ohne als großen Triumph zu verkünden: "3,5 Millionen Mädchen gehen wieder zur Schule, vier Fünftel der Grundschulmädchen sind eingeschrieben." Wunderbar! Applaus! Das einzige Problem: Es stimmt nicht. Human Rights Watch berichtete 2017, dass "16 Jahre nach der von den USA geleiteten Militärintervention, die die Taliban-Regierung vertrieben hat, rund zwei Drittel der afghanischen Mädchen keine Schule besuchen".
Das alles haben wir also nicht getan. Stattdessen haben wir Folgendes getan:
Wir haben eine winzige, privilegierte urbane Elite professioneller Feministinnen erzeugt und gepäppelt, die super zu Vorträgen herumgereicht wurden, jedoch keinerlei Bezug zum - und ich würde sogar behaupten, keinerlei Interesse am - tatsächlichen Leben afghanischer Frauen haben und ihre Privilegien nur selten für das Wohl ihrer ärmeren Schwestern einsetzen.
Wir haben mit Vorliebe Mädchenschulen gebaut. Das war "in", und wir haben frühe Hinweise ignoriert, wonach das Mantra "Schulen bauen, dann kommen sie schon" für Afghanistan keine Gültigkeit besaß. Es gab nicht genug Lehrer, und die nicht enden wollende Gewalt ließ aus Sicherheitsgründen nur ganz kurze Wege zu. Sicher wäre es besser gewesen, stattdessen Krankenhäuser zu errichten und fahrende Krankenschwestern und Hebammen auszubilden, sich auf Ernährungs- und Wasserprojekte sowie grundlegende öffentliche Bildung in puncto Hygiene und Erster Hilfe zu konzentrieren.
Dann kam das Jahr 2021, und plötzlich standen die Taliban in Kabul, und wir reagierten mit Hysterie. Ein Plan B wäre ratsam gewesen, startklare Mechanismen für die Erteilung von Visa im Falle unmittelbarer Gefährdung ausgebildeter Personen oder profilierter Aktivisten. Stattdessen luden wir präventiv möglichst viele männliche und weibliche Fachkräfte in Flugzeuge - all die Menschen mit nützlichen Fähigkeiten: Ärzte und Krankenschwestern, Journalisten, Frauen mit handwerklichem Geschick, Lehrer, IT-Experten. Jeder, der die Zivilgesellschaft, die wirtschaftlichen Beziehungen, das Sozialwesen und gemäßigte Werte aufrechterhalten hätte können, wurde in ein Flugzeug gedrängt und so weit wie möglich weggeflogen. Es war keine Evakuierung, eher eine umgekehrte kulturelle Revolution, die binnen Tagen auslöschte, was wir über zwei Jahrzehnte gehegt hatten.
Wie sind wir nur so weit vom Weg abgekommen? Wir hatten ein Ziel: Befreiung und Ermächtigung der Frauen. Und wir hatten eine Theorie. Wir mussten die afghanischen Frauen bilden, sie ökonomisch unabhängig machen und in die Politik bringen. Ich habe das fehlende Glied in dieser Formel im Jahr 2002 zum ersten Mal wahrgenommen. Ich saß in meinem Büro bei der Rand Corporation an einem Stapel Berichte und Statistiken über Afghanistan. Was mir ins Auge stach, war ein Problem, das niemand ernsthaft zu beachten schien: die grundlegende körperliche Verfassung der durchschnittlichen afghanischen Frau.
Fast überall auf der Welt leben ein wenig mehr Frauen als Männer und haben eine höhere Lebenserwartung. Das ist vor allem in Ländern, in denen Krieg herrscht, der Fall. Denn auch wenn die gesamte Bevölkerung leidet, kämpfen doch vor allem die Männer. In Afghanistan jedoch gab es einen deutlichen Männerüberhang.
Die Gründe dafür lagen auf der Hand: Gutes Essen und medizinische Versorgung bekamen vor allem Buben und Männer. Das machte Mädchen weit anfälliger für Krankheiten und Mangelernährung, was zu Wachstumsproblemen führte und dazu, dass sich ihre Körper nicht richtig entwickelten. Kombiniert mit Kinderheirat erhält man 12- und 13-jährige Mädchen, die schwanger werden, ihr Baby verlieren, für ihr Versagen beschimpft und dazu gezwungen werden, es noch einmal zu versuchen. Überdurchschnittlich viele Mädchen und Frauen starben aufgrund von Vernachlässigung, grober Behandlung, Entbehrung, Verweigerung der Fürsorge und körperlicher Misshandlung.
Ich erinnere mich auch daran, als ich anfing, meine zutiefst feindselige Haltung gegenüber den Taliban zu hinterfragen. Das war 2018. Russland hatte ein Treffen zum Friedensprozess veranstaltet, und die Taliban hatten eine "Moskauer Erklärung" veröffentlicht, in der sie ihre Position erläuterten. Ein Abschnitt befasste sich mit dem Thema Frauen. Wie erwartet fand ich darin die übliche Verdrehung der Tatsachen: Frauen hätten "alle Rechte, die ihnen im Islam garantiert werden", was auch immer das in der Interpretation der Taliban-Männer bedeutete.
Doch dann hieß es weiter: "Frauen sehen sich vielen Katastrophen gegenüber. Die sogenannten Frauenrechtsaktivistinnen sind 17 Jahre in Afghanistan geblieben; in diesem Zeitraum kamen Milliarden Dollar ins Land, und trotzdem steht Afghanistan ganz oben auf der Liste der Länder, in denen viele Frauen aufgrund von fehlenden Gesundheitseinrichtungen bei der Geburt sterben. Afghanistan gehört immer noch zu den Ländern, in denen die Lebenserwartung von Frauen im Schnitt nur 45 Jahre beträgt. Aufgrund von Korruption ist das Geld unter der Überschrift der Frauenrechte in die Taschen derer geflossen, die Slogans für Frauenrechte hervorbringen . . ."
Das war erstaunlich empathisch. Dem konnte ich auch nicht widersprechen. Afghanischen Feministinnen und ihren internationalen Unterstützern schien die Masse der Frauen im Land gleichgültig zu sein, sie hatten keine ernsthaften Versuche unternommen, die größten Katastrophen zu bekämpfen: Nahrungsmittelknappheit, unzureichende Gesundheitsversorgung, fehlende physische Sicherheit.
Ich persönlich hatte schon lange den Respekt vor den Feministinnen Kabuls verloren, die nur ihr eigenes Fortkommen im Sinn hatten und genau wussten, welche westlichen Knöpfe sie drücken mussten, diese Fähigkeit aber fast ausschließlich zu ihrem eigenen Vorteil einsetzten. Sie liebten es, an Konferenzen im Ausland teilzunehmen, waren Expertinnen darin, lukrative Verträge zu ergattern, um einander gegenseitig in solchen Kompetenzen wie öffentlichen Reden, der Übernahme von Führungsaufgaben und der Organisation von Kampagnen zu schulen, und genossen es, in ausländischen Medien für ihren Mut gefeiert zu werden. In den Provinzen hätte man sie nicht gefunden bei dem Versuch, Frauen auf dem Land aufzurichten. Und als Führungsstärke und ihr vielgepriesener Mut dringend erforderlich gewesen wären, zogen sie in den Westen. Wie die Nationalarmee ihres Landes waren sie eine riesige Enttäuschung.

2. Die lebende Erfolgsstory
Fußball spielende afghanische Mädchen. Eine afghanische Straßenkünstlerin. Ein afghanisches Robotik-Team. Als was, wenn nicht als eine extrem herablassende Haltung, lässt sich die überaus erfreute Verblüffung erklären, mit der wir solche Geschichten aufnehmen? Warum ist es so erstaunlich, dass afghanische Mädchen ein Instrument oder Fußball spielen lernen können? Warum sollten sie anders als jedes andere Mädchen in jedem anderen Land sein, wenn sie dazu die Chance bekamen? Angesichts der miserablen Lage des durchschnittlichen afghanischen Mädchens - waren das wirklich die Aktivitäten, die unsere Aufmerksamkeit verdient haben?
Die Amerikanische Universität von Afghanistan hat ein jährliches Budget von 28 Millionen Dollar, für das sie 1.700 Studenten ausbildet, fast alle von ihnen erhalten ein volles Stipendium, rund die Hälfte von ihnen sind Mädchen. Der Campus ist schön, die Infrastruktur hochmodern. Diese Studierenden waren sich ihres unverschämten Glücks doch wohl bewusst und deshalb wild entschlossen, ihren Landsleuten etwas davon zurückzugeben.
Doch als der Augenblick der Wahrheit kam, waren sie nur ihre eigenen Fürsprecher. Sie wollten in die USA geflogen werden - wer kann ihnen das vorwerfen? Sie sind die verwöhnten Kinder unserer schlechten Erziehung, die Anspruchsdenken über Idealismus stellt. Früher wurden sie gruppenweise nach Washington gebracht und als Fundraiser in Fünf-Sterne-Hotels eingesetzt. Am Ende des Abends holte man sie erneut auf die Bühne, um zusätzliche Spenden lockerzumachen. Ging es dabei darum, ein Programm für die Vernachlässigten zu unterstützen, vielleicht Nachhilfe zur Alphabetisierung für Dorfmädchen? Nein, sie wurden aufgefordert, Geld für neue Sporttrikots einzutreiben, und alle applaudierten und zückten ihre Scheckhefte. Wunderbar! Afghanische Mädchen, die Basketballkörbe werfen. Die erwachsenen Mitglieder der lebendigen Erfolgsgeschichte stammen aus wohlhabenden Familien oder Clans. Viele von ihnen haben eine doppelte Staatsbürgerschaft oder Familie im Ausland. Sie sind weit gereist und besitzen Pässe und Visa. Die meisten von ihnen waren schon über alle Berge, ehe das große Ausfliegen begann.
3. Die mutige Aktivistin
Freilich, einige gebildete Frauen sind offensichtlich doch geblieben; wir sehen Bilder von ihnen, wie sie demonstrieren und auf Kundgebungen gehen. Schauen wir einmal genauer hin. Der erste Auftritt der Aktivistinnen fand vor dem Präsidentschaftspalast statt; acht Frauen hielten Schilder hoch, auf denen sie ihre Rechte einforderten, an den darauffolgenden Tagen fanden sich etwas größere Gruppen ein, die die gleiche Botschaft vor diversen anderen öffentlichen Gebäuden vorbrachten. Auf den Fotos sieht man, wie sie wütend schreien und entschlossen die Faust recken.
Wird man auf ihre Forderungen eingehen? Bin ich zuversichtlich, dass die Taliban vorhaben, eine Atmosphäre von Respekt und Sicherheit für Frauen zu schaffen? Gewiss nicht. Doch lassen wir uns nicht täuschen. Für die meisten Frauen im Land würde ein islamisches System einen Schritt nach vorne bedeuten, weil ihre größten Probleme nicht auf die Religion, sondern auf Stammestraditionen zurückgehen. Der Islam lässt keine Zwangsheirat zu und verpflichtet Frauen nicht, sich mehr zu verhüllen, als es die Schicklichkeit verlangt; er verbannt sie nicht aus der Öffentlichkeit und verbietet afghanische Bräuche wie die Beilegung von Konflikten, indem man dem feindlichen Clan ein Mädchen als Sklavin gibt.
Die Praktiken, die für Frauen besonders schlimm sind, stammen aus dem sogenannten paschtunischen Kodex, einem stark patriarchalisch-hierarchisch ausgerichteten System, das besagte, dass das männliche Prestige die totale Unterwerfung und absolute Tugend der Frauen erforderte. Abgeschiedenheit, Verschleierung und Analphabetismus, um jede Gelegenheit für Fehlverhalten zu verhindern, sowie Ehrenmorde, um den Makel selbst von Gerüchten oder vermeintlichem weiblichen Fehlverhalten zu beseitigen, sind ihre hässlichsten Begleiter. Es ist keine Überraschung, dass afghanische Frauen in Umfragen die Scharia dem Paschtunwali, dem paschtunischen Ehrenkodex, deutlich vorgezogen haben.
Die eigentliche Sorge besteht darin, dass die Taliban, nicht eben eine Gruppe von intellektuellen Theologen, ihre Religion genauso exzentrisch interpretieren könnten wie beim vorigen Mal. Damals verbaten sie die Haltung von Singvögeln; dabei ist dieses Verbot garantiert nirgends im Koran zu finden. Jegliche Hilfe von außen kann jetzt am besten von anderen, fortschrittlicheren muslimischen Gesellschaften und ihren Religionsgelehrten sowie von gebildeten Frauen in der gesamten islamischen Welt kommen, die vergleichbare Herausforderungen gemeistert haben.
Aber auch während ihrer vorherigen Herrschaft schienen die Taliban ein wenig Mitleid mit den Frauen zu haben. Es war in den Jahren der vom Westen unterstützten Regierung eine bekannte Peinlichkeit, dass ein Taliban-Gericht in einem der von ihnen kontrollierten Gebiete das Eigentum einer Witwe an ihrem Land bestätigte, während ein afghanisches Regierungsgericht eher Bestechungsgelder von ihrem gierigen Nachbarn annahm.
4. Der Liebling des Koranschullehrers
Die Taliban reagierten gereizt auf "unsere" Frauendemos. Sie schickten hunderte Frauen, die sie unterstützten, Slogans schrien und komplett schwarze, den ganzen Körper verhüllende Kleider trugen - die, wie iranische feministische Dichterinnen zu sagen pflegten, Frauen wie Krähen aussehen lassen - zur Unterstützung der strengen islamischen Herrschaft durch die Straßen von Kabul und anderen Städten. Diese Frauen kamen nicht plötzlich aus dem Nichts. Sie wurden in Koranschulen direkt vor unserer Nase und in beträchtlicher Zahl erzogen, in den angeblichen Jahren der Aufklärung und Freiheit während der säkularen Ära, auf die wir so stolz waren. Aber wir hatten keine Ahnung, dass sie da waren. Eine Gruppe Frauen gegen eine andere auszuspielen, ist eine sehr schlechte Entwicklung, und daran tragen allein wir die Schuld. "Wir brauchen keine Frauen, die Afghanistan verlassen haben, um uns zu sagen, was wir tun sollen", heißt es auf ihren Transparenten. Das trifft es ganz gut.
Ich bin mir wirklich nicht sicher, was jetzt kommt. Unser 20-jähriges Befreiungsexperiment ist gescheitert, zu einem schwindelerregenden Preis. Wir haben in exotische Frivolitäten investiert und Leuten Geld hinterhergeworfen, die es am wenigsten gebraucht und sich seitdem nur allzu bereit erwiesen haben, die Hand zu beißen, die ihnen die Schecks ausstellte. Und so ist es - so herzlos es klingt - wahrscheinlich am besten, wenn wir der "letzten Versuchung" widerstehen und uns fernhalten. Und hoffen, dass die Nachtigall eines schönen Tages, zu ihrer Zeit und in ihrem eigenen Ökosystem, singen wird.
Zur Autorin~ Der vorliegende Text ist auch schon in englischer Sprache auf www.unherd.com erschienen.