Die Welt, sie ist ein Dorf! In den 60er Jahren stellte der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram die Behauptung auf, dass jeder Mensch mit jedem anderen über nicht mehr als ein halbes Dutzend Zwischenstationen vernetzt ist. Lange Zeit ignorierte die Wissenschaft Milgrams Theorie, deren Aussagen sie ohnedies skeptisch gegenüberstand. Erst Ende der 90er Jahre begann eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinen Behauptungen. Und siehe da: Nicht nur überzieht tatsächlich ein engmaschiges Netzwerk sozialer Beziehungen unseren Globus, sondern es fanden sich auch erstaunliche Parallelen zu anderen Bereichen.
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Milgram schickte 1967 an 160 willkürlich ausgewählte Einwohner der in Nebraska gelegenen Stadt Omaha einen Brief. Diesen wurde mitgeteilt, dass der Brief für einen Börsenmakler bestimmt sei, der in der Nähe von Boston arbeiten und in Sharon (Massachusetts) leben würde. Die Empfänger erfuhren allerdings nicht die Anschrift des Maklers, sondern nur seinen Namen und seinen Beruf. Und sie wurden gebeten, den Brief an eine Person weiterzuleiten, die zu ihrem Bekanntenkreis gehören sollte und von der sie annahmen, dass sie mit jenem mysteriösen Makler direkt oder indirekt in Verbindung stehen könnte.
Nach Abschluss des Experiments gab Milgram bekannt, dass jede Menge Briefe ihren Bestimmungsort erreicht hätten und dass dafür durchschnittlich gerade einmal fünf oder sechs Stafetten erforderlich gewesen wären. Er folgerte daraus, dass die gesellschaftliche Welt erheblich kleiner ist, als es den Anschein hat. Und er ging sogar so weit zu behaupten, dass jeder Mensch über nicht mehr als ein halbes Dutzend Zwischenstationen mit jedem anderen vernetzt wäre.
Milgrams Theorie wurde rasch populär. Doch das kümmerte die scientific community wenig. Lange Zeit hielt sie es für unter ihrer Würde, sich mit Milgrams Theorie abzugeben, und ihre Wissenschaftlichkeit zog sie von Anfang an in Zweifel. Nicht ganz zu Unrecht. Als die amerikanische Psychologin Judith Kleinfeld vor einigen Jahren Milgrams Nachlassmanuskripte sichtete, stellte sie fest, dass er sich bei seiner Kettenbriefaktion ziemlich fragwürdiger Methoden bedient hatte.
Doch dann traten der Physiker Steve Strogatz und der Soziologe Duncan Watts auf den Plan. Sie wandten die Graphentheorie auf das gesellschaftliche Universum an, um herauszufinden, wie es organisiert sein muss, wenn es wie eine "Small World" im Sinne Milgrams funktionieren soll. 1998 stießen sie endlich auf eine Möglichkeit, sechs Milliarden Punkte - die die Bevölkerung der Erde repräsentieren - so miteinander zu verbinden, dass man von jedem beliebigen Punkt aus über höchstens sechs Zwischenstationen zu jedem anderen gelangen kann.
Mischung aus Chaos und Ordnung
Das Netzwerk-Muster, das sich dabei ergibt, ist eine merkwürdige Mischung aus Ordnung und Chaos. Dies zeigt, dass es zwei verschiedene Arten von gesellschaftlichen Netzwerken gibt. Jeder Mensch hat starke Bindungen zu einer beschränkten Anzahl von Menschen, die ihrerseits durch ein dichtes und symmetrisches Geflecht von Beziehungen miteinander verknüpft sind. Neben diesen weitgehend geschlossenen Gesellschaften gibt es auf schwache Bindungen beruhende Bekanntschaften, die mehr oder weniger zufällig zu Stande kommen. Erst diese Zufallsbekanntschaften verwandeln das gesellschaftliche Universum in ein Dorf. Sie stellen Fernverbindungen zwischen Welten her, die durch riesige Räume voneinander getrennt sind. So entsteht ein Netzwerk, das den deutschen Professor mit der japanischen Reiseleiterin verknüpft und beide mit dem bolivianischen Fließbandarbeiter.
Für Strogatz und Watts war die Arbeit damit längst noch nicht zu Ende. Um ihr Modell empirisch zu überprüfen, befassten sie sich mit dem Nervensystem des Fadenwurms Caenorhabditis elegans. Es stellte sich heraus, dass die 282 Neuronen, aus denen es besteht, derart miteinander verkoppelt sind, dass durchschnittlich nur 2,65 Zwischenschritte sie voneinander trennen. Eine ähnliche "Small World"-Konstruktion kam zum Vorschein, als sie das Netz der Hochspannungsleitungen in den Vereinigten Staaten erforschten.
Suche nach weiteren "Small Worlds"
Strogatz und Watts haben in den letzten Jahren Wissenschaftler aller möglichen Fachrichtungen dazu angeregt, nach weiteren Netzwerken mit "Small World"-Eigenschaften zu suchen. Und tatsächlich, ob es sich um die belebte oder unbelebte Natur oder um die menschliche Gesellschaft handelt - überall tauchen "Small Worlds" auf. So haben der Physiker Vito Latoria und der Informatiker Massimo Marchiori vor kurzem herausgefunden, dass Katzen- und Makakenhirne im Wesentlichen den gleichen Bauplan haben wie die Nervensysteme von Fadenwürmern. Auch hier sind die Neuronen derart verdrahtet, dass jede Hirnregion über zwei oder drei Querverbindungen an jede andere Signale übertragen kann. Man vermutet, dass dasselbe für das menschliche Gehirn gilt. Das würde erklären, warum es trotz seiner Komplexität schnell und koordiniert reagieren kann und warum es selbst dann noch funktioniert, wenn einzelne Areale schwer geschädigt oder vollständig zerstört sind.
Das Gehirn teilt wiederum grundlegende strukturelle Merkmale mit der Sprache und mit dem Wissenschaftsbetrieb. Kürzlich haben die Physiker Ricard Sole und Ramon Ferrer i Cancho die grammatischen Beziehungen zwischen 460.902 Wörtern der englischen Sprache statistisch analysiert. Dabei kam zu Tage, dass die Sprache mit knapp drei Zwischenschritten eine der kleinsten der kleinen Welten ist. Zwei andere Physiker - Sidney Redner und Mark Newman - haben untersucht, wie es sich mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen verhält. Es zeigte sich, dass alle Veröffentlichungen durch Zitate, Fußnoten und Koautorschaften so eng miteinander vernetzt sind, dass jeder Naturwissenschaftler durchschnittlich nur vier oder fünf Zwischenschritte von jedem seiner Kollegen entfernt ist. Es zeigte sich aber noch etwas anderes: Etwa die Hälfte aller wissenschaftlichen Veröffentlichungen hinterlässt nicht die geringsten Spuren und wird nirgendwo zitiert; und Arbeiten, die einmal zitiert werden, sind viermal häufiger als diejenigen, die zweimal und 16 Mal häufiger als diejenigen, die viermal zitiert werden, usw. Dies zeigt: "Small Worlds" sind in der Regel alles andere als Reiche der Gleichheit.
Hierarchische Strukturen
Ob Wirtschaftssysteme, tierische und pflanzliche Zellen oder das World Wide Web - "Small Worlds" sind meistens hierarchisch organisiert. Meistens haben einige wenige Elemente eine Schlüsselposition. Mittlerweile weiß man, dass das auch auf Ökosysteme zutrifft Ökosysteme sind nicht nur "Small Worlds". Für sie ist außerdem charakteristisch, dass es jeweils eine winzige Anzahl von Tier- und Pflanzenarten gibt, die mit den restlichen in hohem Grad vernetzt sind. Das Verschwinden selbst einer einzigen Schlüsselart hat deshalb nicht selten verheerende Folgen. "Small Worlds" haben eben neben etlichen Vorteilen auch Nachteile. Sie ermöglichen es, Informationen mit hoher Geschwindigkeit über große Distanzen zu übertragen. Aber sie begünstigen auch die Konzentration von Macht. Und sie machen es Infektionskrankheiten leicht, sich überallhin zu verbreiten. Wenn sechs Milliarden Menschen über Nah- und Fernverbindungen weltweit miteinander vernetzt sind, kann jede Infektion, die auf Menschen an den Schnittstellen überspringt, eine Kettenreaktion auslösen. Genauso hat sich das AIDS-Virus verbreitet.