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Es gab einmal einen unverbindlichen Rahmen, innerhalb dessen sich der Staat um seine Bürger kümmern sollte. Er hieß "Ökosoziale Marktwirtschaft" und war für die konservative Seite der Staatsmacht in Mitteleuropa etwas, an das man sich zu halten versuchte.
Ohne allzu lang im Topf der Geschichte umzurühren, können wir sagen, dass "Öko" und "Sozial" seither stark verloren haben, während die Marktwirtschaft, eigentlich der viel brutalere Spätkapitalismus, übermäßig gewonnen hat. Da geht es jetzt gar nicht mehr um Angebot und Nachfrage, wie bei den Äpfeln am Naschmarkt, sondern ob und wie weit das Kapital den Staat zum Exekutivorgan seiner Interessen machen kann. So titelte vor kurzem eine heimische Qualitätszeitung: "Opel-Jobabbau trotz Förderungen sorgt für heftige Kritik." Hätten wir eine echte Marktwirtschaft, wäre diese Förderung mit Steuergeldern als unzulässige Wettbewerbsverzerrung gebrandmarkt worden. Im heutigen Österreich wird sie von den Förderungsgebern als "Standortförderung" beschrieben und verteidigt.
Sehr viele ähnliche Meldungen aus Deutschland belegen die Abhängigkeit der Politiker aller Ebenen und aller Couleurs von der Geschäftspolitik der Großkonzerne, die in der Zwischenzeit auch noch korrupt geworden sind: Betrug an den Kunden in Form mangelhafter und manipulierter Produkte, Steuerbetrug am Staat, Betrug an den Mitarbeitern usw. - und kein Manager vor Gericht. Ist das jetzt schon die neue Norm? Ist Deutschland korrupt? Ach ja! Das Wirtschaftswachstum! Die Arbeitsplätze!
"Ändert die Wirtschaftspolitik", hat Kurt Bayer schon am 25. Jänner im "Standard" geschrieben. Das kann jeder fordern. Bayer ist aber nicht irgendwer: Er arbeitete für das Finanzministerium in führender Position, war Executive Director der Weltbank und am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche tätig. Punkt für Punkt zerlegte Bayer in seinem Gastkommentar die Mär vom Wirtschaftswachstum, durch das erst die Mehrwerte geschaffen werden, die wir dann an die Armen verteilen können. Es passiert das genaue Gegenteil. Die Wirtschaft wächst, und die Armutsgefährdung nimmt zu. Ich treffe Bayer im Kaffeehaus und frage ihn: "Aber ist es nicht so, dass 70 Jahre phänomenales Wirtschaftswachstum hinter uns liegen, welches fast alle von uns, und gerade auch die Ärmsten, aus einem Kriegstrümmerfeld in ungeahnte Wohlstandshöhen gehievt hat?" Seine Antwort: "Ja." Ich frage: "Würden Sie den Satz unterschreiben, dass ‚am Ende seiner langen, erfolgreichen Reise der Kapitalismus sich selbst und die Welt kaputtmacht‘?" Antwort: "Durchaus." Aber wer die Wirtschaftspolitik ändern soll und wie, kann mir Bayer trotzdem nicht sagen.
100 Milliarden Euro jährlich für Afrika und Nahost
Die gleiche Unschlüssigkeit habe ich bei Karl Aiginger erlebt, Professor an der Wirtschaftsuni und früherer Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo). Er hat die Summe genannt, die man ausgeben müsste, um in unserer Nachbarschaft in Afrika und Nahost so zu unterstützen, dass die Menschen dort sich selbst helfen können: 100 Milliarden Euro jährlich. 10 Milliarden werden schon jetzt gießkannenmäßig verspritzt, ohne dass es irgendeine übergeordnete Erfolgskontrolle gäbe. Es fehle an einer Strategie und an konsistenter Politik, stellte Aiginger fest. Und schließlich hat auch unser Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Ex-Volkswirtschaftsprofessor, beim Empfang einer Abordnung klimabesorgter, schulstreikender junger Menschen mahnend gemeint, dass wir uns alle mehr anstrengen müssten. Ja, sicher. Aber in welche Richtung? In die Richtung Norbert Hofers oder doch eher in die von Greta Thunberg?
Darf ich mir die Vermutung erlauben, dass die Herren Wirtschaftprofessoren selber nicht weiterwissen? Dass sie betriebsblind sind? Womöglich die ganze Branche? Joseph Schumpeter (1883 bis 1950), ein Großer der österreichischen Nationalökonomie und Verfechter des freien Unternehmertums als eines unverzichtbaren Innovations- und Fortschrittstreibers, war da weniger zögerlich: Der Kapitalismus könne nicht überleben, erklärte er. Ruiniert werde der Kapitalismus aber nicht durch die Anfeindungen des Marxismus, sondern seine eigenen Erfolge würden ihn zugrunde richten.
Szenenwechsel: Ich bin Planer und Teil einer Dreiergruppe österreichischer Ziviltechniker, die sich, beginnend mit den Vorschlägen von Bernd Stanzel 2011, mit der Migration auseinandergesetzt hat. Das Ergebnis ist ein Plan in Schriftform, der sich "Friedensoasen" nennt. Er beginnt mit dem englischen Satz: "If people lack food and work, make them work to grow their food", und endet so: Aus Wüsten sollen Nahrungsgärten werden.
Mit ein paar Fellachen die Wüste fruchtbar machen
Am 1. März 2019 hielt Helmy Abouleish an der Karl-Franzens-Universität Graz einen Vortrag über "100 Prozent nachhaltige Landwirtschaft für Ägypten - Sekems Vision 2057 für einen ganzheitlichen Wandel". Helmy ist der Sohn von Ibrahim Abouleish, einem "europäischen Ägypter", der in Graz studierte, reich wurde und 1977 völlig verwandelt in seine Heimat zurückkehrte, um mit einem Traktor und ein paar Fellachen als Helfern die Wüste bei Heliopolis in der Nähe Kairos fruchtbar zu machen. Inzwischen ist Sekem zu einem halb-genossenschaftlichen Unternehmensgeflecht geworden, von dem ein paar tausend Bauern direkt abhängen und noch sehr viele mehr indirekt profitieren. 2003 wurde Ibrahim Abouleish für sein Werk mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. 2017 starb er.
Vor und nach dem Vortrag konnte ich ausführlich mit Helmy reden. Über die Situation in Ägypten, das ich seit einer Rucksackreise 2010 mit meiner Frau ganz gut kenne: Im Durchschnitt wächst die ägyptische Bevölkerung pro Jahr um 1,9 Millionen. Afrikas Einwohnerzahl wird sich bis 2050 auf 2,5 Milliarden verdoppeln. (Da fällt einem wieder die Studie "Die Grenzen des Wachstums" von 1972 ein.) Bei allen Fragen, welche die Zukunft Ägyptens und Afrikas betreffen, bin ich mit Helmy Abouleish einer Meinung. Wenn aber Sekem den Schlüssel zur perfekt ausgefeilten "Bodenbearbeitung" besitzt, sodass auf früher unfruchtbarem Terrain nach 18 Monaten die erste Ernte eingefahren werden kann, dann sollte man dieses Wissen doch möglichst schnell und möglichst breit gestreut auf ganz Ägypten und dann auf alle Wüstenstaaten anwenden können: Radikale Beschleunigung und Vervielfältigung des "Sekem- Impulses", sodass er zu einer exponentiell wachsenden Zahl von "Friedensoasen" wird. Die Wüste wird grün, und immer schneller.
Helmy Abouleish zögert. Er hat einen Grund: fehlendes Wasser. Dazu gibt es aber auch einen Schlüssel. Der liegt in Libyen. Spätestens seit 2007, als Muammar Gaddafi das letzte Teilstück des Great Man Made River einweihte, wissen wir, dass unter der Sahara ein riesiger Schatz fossilen Wassers darauf wartet, gehoben und nutzbar gemacht zu werden. Jetzt herrscht in Libyen Chaos. Aber nicht überall. Die OMV bohrt nach Öl. Nur? Ich möchte mit ihrem Chef, Rainer Seele, sprechen.
Schumpeter würde sagen: "Es ist so weit." Die Wende von unserer Wirtschaftswachstumshysterie zur Solidarwirtschaft und Verantwortung für den Globus wird sehr schmerzhaft sein. An den Techniken wird es nicht liegen. Kompostwissen, Wasser, Expertise, Strategie, Managementerfahrung - alles da. Radikale Solidarität mit den Ärmsten müssen wir noch lernen.
Klug-radikales Teilen der Reichsten mit den Ärmsten könnte das ändern.
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