Würde China so viel Öl verbrauchen wie der Westen, entspräche das dem gesamten Weltverbrauch
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Peking/Neu Delhi/London.
Konsum ist der Treibstoff des globalen Kapitalismus, ohne den die Güter- und Kapitalströme zum Versiegen kämen. Denn wenn die Nachfrage einbricht, gehen Jobs verloren und Existenzen sind gefährdet. Solange die Container- und Tankschiffe, die Frachtflugzeuge und Sattelschlepper den unstillbaren Hunger der Konsumenten nach "mehr, mehr, mehr" befriedigen, bleibt die Weltwirtschaft in Bewegung.
Werbung schürt Begehren, Konsum ist Therapie - die Belohnung für den irren Lauf im Hamsterrad, mit dem wiederum mehr Waren und Dienstleistungen bereitgestellt werden.
Doch das bisherige Paradigma stößt an seine Grenzen: Seit der Lehman-Pleite von 2008 steht das Modell im Westen auf dem Prüfstand, einzelne Intellektuelle wie etwa der britische Ökonom Richard Layard hinterfragen, ob das Bruttonationalprodukt, die Summe der im Inland erzeugten Waren und Dienstleistungen, tatsächlich der geeignete Indikator ist, um festzustellen, wie gesund eine Volkswirtschaft ist. Er gehört zur Gruppe der "Glücks-Ökonomen", für die das menschliche Wohl im Mittelpunkt steht: Ein Bruttoinlandsprodukt von 10.000 Dollar pro Kopf bietet die Basis für ein glückliches Leben. Interessanterweise steigt das individuelle Glücksempfinden nicht mehr signifikant, wenn die Gesellschaft wohlhabender wird. Mehr Geld macht also nicht unbedingt glücklicher.
Konsum ist nicht die Lösung, meint auch der asiatische Intellektuelle Chandra Nair. Er hält eine Abkehr vom Konsumismus-Paradigma für zwingend. Nair scheint es schlicht unmöglich, dass die auf dem Planeten Erde vorhandenen Rohstoffe für einen Kosum-Boom in Asien ausreichend sind.
Tatsächlich sind Zweifel angebracht, dass die Ressourcen ausreichen würden, um allen Bewohnern der Welt westlichen Lebensstandard zu garantieren.
So viel Öl gibt es nicht
Zur Illustration: China verbraucht bei einer Einwohnerzahl von etwas über 1,3 Milliarden Menschen etwas weniger als 10 Millionen Barrel Öl. Die USA verbrauchen bei einer Bevölkerung von etwas über 300 Millionen Menschen rund 20 Millionen Barrel pro Tag. Würde jeder chinesische Bürger genauso viel Öl verbrauchen, wie jeder US-Bürger, dann entspräche das ziemlich genau dem derzeitigen Weltölverbrauch, der bei rund 87 Millionen Barrel liegt.
Gibt es Wachstums-Alternativen? Der US-Ökonom Tyler Cowen veröffentliche vor kurzem ein schmales Bändchen, in dem er von der "großen Stagnation" warnte: Amerika und die industrialisierte Welt habe in den vergangenen Jahrzehnten die niedrig hängenden Früchte geerntet und dieser Baum sei nun eben abgeräumt. Asien und insbesondere China hätten Ideen importiert und sie dann mit dem Einsatz riesiger Ressourcen von Humankapital umgesetzt: etwa die iPhone-Ökonomie Chinas. Die Blueprints für die Geräte kommen aus Cupertino, Kalifornien, zusammengestöpselt werden die in den USA designten Geräte dann in Shenzhen oder Chengdu in China.
Asien braucht sein eigenes Entwicklungsmodell, doch wenn man Tyler Cowen folgt, dann steht auch eine Epochenwende an. Sein Argument: Bis zum heutigen Tag basieren Innovationen auf den revolutionären Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts auf den Feldern Industrie, Chemie und Physik (insbesondere Elektrizität). Diese Technologien wurden stetig verbessert, Elektrizität ebnete den Weg zur Telefonie, Internet war der nächste revolutionäre Schritt in der Telekommunikation.
Doch all das seien inkrementelle und keine revolutionären Entwicklungsschritte mehr gewesen.
Cowen argumentiert, dass sich in einem Haushalt heute so ziemlich dieselben Geräte befinden, wie in den 70er Jahren - mit Ausnahme des Computers. Cowen ist der Meinung, dass die Innovationskurve schlicht abgeflacht sei.
Das Internet sei zwar eine tolle Innovation, schreibt Cowen, schaffe aber wenig Arbeitsplätze.
Der Internet-Gigant Facebook hat gerade einmal 3000 Arbeitsplätze geschaffen. Zum Vergleich: Für den US-Automobilkonzern GM sind 202.000 Arbeiter und Angestellte tätig.
Technologie kann also nur einen geringen Beitrag zur weiteren Entwicklung Asiens leisten.
Jugaar - Passt schon
Punkto Mangelverwaltung ist Indien kaum zu schlagen: Das Hindi-Wort "Jugaar" ist schwer zu übersetzen, meint aber so etwas wie: "passt schon", die Kunst, etwas hinzubekommen. "Doing more with less for more", "mehr mit weniger für mehr" zu tun, diesen Slogan hörte man beim World Economic Forum in Delhi oder vergangenes Jahr in Bombay regelmäßig.
Das 100.000 Rupien-Spar-Auto von Ratan Tata, der "Nano", galt lange Zeit als Symbol eines abgespeckten Produkts, das eben gerade gut genug ist, um am Markt zu bestehen.
Der Nano blieb bisher hinter den Erwartungen zurück, doch "Jugaar" gilt als ein mögliches Konzept zur Befriedigung der riesigen Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Produkte können nicht perfekt sein, wenn sie möglichst sparsam und billig hergestellt werden sollen.
Westliche Konzerne sind auf "Jugaar" aufmerksam geworden und haben Einsatzmöglichkeiten für abgespeckte Produkte aus Indien für die westlichen Märkte gefunden: Ein billiges EKG für Ärzte und Spitäler in Indien ist auf diese Weise für Patienten in Europa oder den USA für ihren persönlichen Einsatz leistbar geworden.
Intellektuelle in Asien stellen auch infrage, ob Urbanisierung der Schlüssel zu Wachstum und Wohlstand sein kann: Chandra Nair verneint. Für ihn liegt die Zukunft Asiens in der ländlichen Entwicklung. Denn wer soll all die Produkte kaufen, die in den Sweatshops Asiens produziert werden, wenn es schon schwierig genug ist, Abnehmer für jene Produkte zu finden, die in den verlängerten Werkbänken des Perlflussdeltas produziert werden. Eine weniger energie- dafür mehr arbeitsintensive Landwirtschaft würde Jobs schaffen und wäre auch ökologisch sinnvoller.
Die Bereitstellung von Lebensmitteln und sauberem Wasser habe oberste Priorität und für die Produktion von gesunder Nahrung seien Investitionen in den ländlichen Raum erforderlich. Auf diese Art würde der Strom der Menschen, die in der Stadt ihr Glück suchen und dort oft nur Elend finden, abreißen und der ökologische Druck auf das Umland der Städte geringer werden.
Vijay Jawandhia, Chef der wichtigsten Bauernorganisation Indiens, schlägt in dieselbe Kerbe: Er beneidet die europäischen Bauern um ihre Subventionen und fordert bereits seit vielen Jahren eine Umverteilung des Wohlstands von den Städtern zur ländlichen Bevölkerung.
Das Asiatische Modell
Doch kann Asien eigene Entwicklungsmodelle finden? In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Modelle der USA und Europas kopiert. Nair plädiert für starke Staaten in Asien, was ihm immer wieder heftige Kritik einbringt, da dies als Entschuldigung für autoritäre Regimes gelesen werden kann. Seine Argumente unterscheiden sich nicht allzu sehr von jenen, die man von Partei-Intellektuellen der Chinesischen Kommunistischen Partei hört: Was kümmert einen Tiananmen, wenn die Reisschüssel leer ist?