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Angstlust: Es ist diese Mischung aus Faszination und Horror, welches die versammelte Hohepriesterschaft der liberalen Weltordnung am Freitag erfassen wird, wenn sie an den Lippen des 45. US-Präsidenten hängen wird. Möglich, dass Donald Trump erneut gegen die Ideen von Freihandel und institutionellem Multilateralismus wettert. Genauso gut ist aber vorstellbar, dass er die Spitzen der globalen Politik und Wirtschaft umschmeichelt. Immerhin ist seine Agenda allgegenwärtig.
Um zu erkennen, wie massiv sich die Koordinaten der globalen Debatten bereits verschoben haben, muss man nur in Gedanken durchspielen, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn heute Hillary Clinton im Weißen Haus sitzen würde. Immerhin hat sie nur um Haaresbreite verloren und dabei auch noch mehr Stimmen erhalten.
Mit der Demokratin im Oval Office würden sich wohl kaum Thinktanks und Meinungsführer den Kopf darüber zerbrechen, wie es dazu kommen konnte, dass in den Herzstaaten des westlichen Globalisierungsmodells plötzlich die Unterstützung für dieses Systems wegbricht.
Dafür wären die USA mit Clinton immer noch ein strahlender Stern am Himmel der liberalen Werte, würde doch statt eines sexistischen Egomanen zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau den Titel des mächtigsten Menschen tragen. Hollywood wäre entzückt, die Wall Street nicht minder, nur leiser begeistert, die USA wären noch immer Teil des Pariser Klimaschutzabkommens, und die Medien müssten sich weder über Pläne für einen Mauerbau zu Mexiko noch über Einreiseverbote für Muslime empören.
Kurz gesagt, die liberalen Eliten in Davos würden der 45. Präsidentin der USA als einer der ihren einen herzlichen Empfang bereiten. Also eitel Sonnenschein statt Sorgen vor einem großen Handels- und Währungskrieg.
Nun lässt sich trefflich darüber streiten, was Trump von seinen Vorhaben tatsächlich in konkrete Politik übersetzen kann. Aber eines ist ihm bereits gelungen: Er hat eine grundsätzliche Debatte über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen der Globalisierung losgetreten (und wenn sie schon in Ansätzen vorhanden war, dann hat er sie rasant beschleunigt). Die Hohepriesterschaft der liberalen Eliten grübelt über ihre Fehler und Wege, die Defizite zu beheben. Hillary Clinton hätte das wahrscheinlich nicht geschafft.