Nostalgie ist ein Stilmittel der rechtsnationalen Kräfte.
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Das Unsagbare sagen, weil was die Leute denken, wird man ja noch sagen dürfen. Die Neuinterpretation des bekannten Orgelwerks aus der Feder Jörg Haiders durch Gottfried Waldhäusl löste am Mittwoch wohlbekannte Mechanismen und Reaktionen aus: Empörung, Entsetzen, politische Verurteilungen. Man kann es auch nicht übergehen und so tun, als hätte der blaue Landesrat nicht einem Kind sinngemäß gesagt: Ohne dich wäre Wien noch Wien. Das ist rassistisch, vor allem aber: unanständig. Es ist durchaus möglich gegen illegale Einwanderung, gegen zu viele Asylwerber oder Ausländer im Allgemeinen zu sein und zu argumentieren, ohne einem Kind zu sagen, dass es besser wäre, es wäre nicht hier. Und zwar ins Gesicht.
Waldhäusls Zugabe tags darauf war nicht minder vertraut: "Die Wahrheit muss dem Bürger zumutbar sein", antwortete einst Haider den Kritikern seines "Ausländervolksbegehres". Waldhäusls Variation: "Die Wahrheit ist verträglich."
Dabei ist es gar nicht die Wahrheit. Unstrittig ist, dass sich Wien, wie auch Österreich, enorm verändert hat und damit, wenn man so will, Wien "nicht mehr Wien ist", also nicht mehr so ist, wie es vor 20, 30 oder 40 Jahren war. Aber das trifft auf sehr viel zu. Aus dem Waldhäusl’schen Kontext befreit, ist die Aussage völlig beliebig. "Das ist nicht mehr Wien!", kann derjenige sagen, der heute in Wien eine günstige Wohnung sucht, und diejenige, die auf der Donauinsel stehend auf Wolkenkratzer blickt.
Abseits der Provokation steckt in der Aussage ein zweiter, sehr wichtiger Aspekt. Wie andere rechtsnationale Parteien weltweit bedient sich nämlich auch die FPÖ seit Jahren der kollektiven Nostalgie. Die Brexit-Kampagne war eine einzige Nostalgiefahrt, Donald Trump wollte Amerika nicht einfach nur besser machen, sondern "great again", also so wie früher. Und in Deutschland wollen 80 Prozent der AfD-Wähler die D-Mark zurück.
Das ist kein Zufall. Veränderungen sind fast immer von Ambivalenz begleitet. Ob diese Veränderungen in der Gesamtschau als Verbesserung oder Verschlechterung wahrgenommen werden, hängt maßgeblich von der individuellen Lebenssituation und von persönlichen Erfahrungen ab. Dazu kommt, dass fundamentale Krisen und Unsicherheiten, wie sie uns seit Jahren begleiten, die Sehnsucht nach einer (meist verklärten) Vergangenheit verstärken.
Es ist daher politisches Kalkül, auf Nostalgie zu setzen und die heile Welt von gestern zu besingen. Doch auch wenn viele in das Lied einstimmen, hat das mit "Wahrheit", wie sie Waldhäusl zu verkünden meint, nicht zu tun. Es ist vielmehr das Gegenteil, ein unerfüllbares Versprechen.
Die Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen, weder in Wien noch in London. Versucht hätte man es dort. Aber die Roaring Sixties kehrten nicht zurück.