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Die Welt vor Augen

Von Jochen Jung

Reflexionen

Das Lesen von Büchern bildet eine Grundlage unserer Kultur. Es schafft Zugang zu uns selbst - und zum Dasein in all seinen Möglichkeiten.


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"Die Leserin" von Pietro Magni.
© gemeinfrei

DER LESER UND SEIN BUCH: DER - Pardon, aber wir müssen gleich mit einer Korrektur beginnen: Denn nicht nur aus Gendergründen, sondern (falls das etwas anderes ist) aus Gründen der Gerechtigkeit muss sofort klargestellt werden, das der Leser heutzutage überwiegend eine Leserin ist. Es sind schon seit längerem die Frauen, die die Pflege der Kultur des Bücherlesens übernommen haben.

Weibliches Gespür

Die Gründe dafür sind sicher vielfältig und unscharf: Die Frauen arbeiten schon längst so viel(fältig) wie die Männer, und höchstens die Männer meinen, dass sie eh schon alles wissen. Mag sein, dass Frauen grundsätzlich neugieriger sind als Männer, gewiss interessieren sie sich mehr für seelische Vorgänge und haben daraufhin auch ein differenzierteres Gefühl für sprachliche Besonderheiten. Andererseits wissen wir von den Großen der Literatur, was Männer können, und wir wissen auch, wie blöd in Wahrheit diese Unterscheidungen großer Gruppen sind: die Österreicher sind so, die Deutschen hingegen so. Und die Liechtensteiner?

Tatsache ist, dass das Personal in vielen Verlagen und den meisten Buchhandlungen weiblich ist (wenngleich auch dort in den leitenden, entscheidenden Positionen die Männer immer noch in der Überzahl sind), und unbestreitbar sagt die Statistik, dass die Frauen die Kundinnen in der Buchhandlung sind, sie kaufen die Bücher und lesen sie, sie bestimmen, was zu Hause auf dem Tisch liegt, sie kaufen die Geschenke zu den klassischen Terminen (was bedeutet, dass oft auch sie es sind, die entscheiden, was die Männer lesen).

Seit das Bürgertum im 18. Jahrhundert die Literatur entdeckte, waren es die Frauen, die die Romane lasen, um etwas von der Welt zu erfahren (der realen und der der Möglichkeiten), ungeachtet der Drohgebärden der Männer, die, in der Literatur eine Konkurrenz witternd, der Meinung waren, Romane verstörten die Seelen ihrer Frauen. Noch das Schicksal von Madame Bovary legt, wenn auch intelligenter argumentierend, davon Zeugnis ab.

Im Übrigen zeigte die bildende Kunst immer schon neben den Kirchenvätern und anderen intellektuellen Heiligen Maria als eine, die bei der Verkündigung irritiert von ihrem Buch aufblickt, in dem sie gerade gelesen hat (und natürlich ist es die Bibel, die sie liest und in der sie die Stellen sucht, in denen im Alten Testament - das Neue konnte es ja noch nicht geben - auf ihr Schicksal prophetisch hingewiesen wird.

In jedem Falle ist das Bild eines runzligen Alten, der sich mit Steinbrocken kasteit und von der Lektüre ablenkt, weniger ansehnlich und zum Selberlesen verführend als eine hübsche Studentin, die gerade ihre aparte Zukunft verkündet hört. Zwar ist nicht jedes Buch eine Bibel, aber es ist doch ein Zeichen dafür, dass es in Büchern Wahres zu lesen gibt; um nicht zu sagen: Jeder Autor ist seit Moses der Meinung, dass das, was er schreibt, wahr ist.

Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt a. M., ist österreichischer Verleger (Verlag Jung und Jung, Salzburg) und Schriftsteller (zuletzt "Zwischen Ohlsdorf und Chaville", Haymon 2015).

Seltsame Figur

LESER: Eine seltsame Figur: Da sitzt einer (d.h. eine, aber ich werde von jetzt an wieder auf alte Art maskulin subjektivieren und dabei alle meinen), hält etwas in der Hand, als wäre es ein Kleinkind (Frauen!), starrt es mit selten bewegter Miene an, greift alle fünf Minuten zu und blättert um, und wenn wir im richtigen Moment dabei sind, dann hören wir beim abschließenden Zuklappen auch einen schönen Seufzer oder seltener ein schrilles Auflachen. In dieser Zeit ist der Leser kaum ansprechbar, erhebt sich nur fürs Nötigste (Nachfüllen des treu zur Seite stehenden Glases und dessen Folgen) und ist auch im ersten Moment kaum zu distanzierten Kommentaren fähig.

Dann aber, wenn all das in Kopf und Herz, was dort angezettelt (gebucht) wurde, zusammengeronnen ist, kommt der Kommentar: entweder kurz und knapp mit "so ein Scheiß" oder doch mit "tolles Buch", oder es beginnt eine Suada, als wolle jemand noch einmal die Länge des Buches nachvollziehen. Schließlich hat man ja auch eine gutes Stück Lebenszeit in die Lektüre investiert, und das auch noch mit einer Präsenz und Intensität, gegen die oft selbst die morgendliche Zeitungslektüre (bekanntlich auch ein beliebter Kommentaranstifter) verblasst.

Damit das alles in verdienter Entspanntheit geschehen kann, gehören dazu die entsprechenden Möbel, und auch da war das 18. Jahrhundert Vorreiter: Recamière und Chaiselongue dienten nicht nur der Präsentation der darauf liegenden Dame, sondern ebenso der Bequemlichkeit beim Lesen. Der sogenannte Lesesessel mit Fußbank, heutzutage leider von der Möbelindustrie schwer vernachlässigt, hat seine Dienstbarkeit überwiegend dem Sofa hinterlassen, auf dem längs zu liegen, den Rücken an der gepolsterten Lehne, wahrlich viel Gutes hat.

Lesen im Bett

Man hat es sich verdient, die Härte der Schulbank mit weichen Freizeitpolstern (dazu später mehr) zu ersetzen, hingegen das Lesen im Bett: Ich höre immer wieder von dem Vergnügen daran, um nicht zu sagen, von der Notwendigkeit (wie soll man einschlafen, wenn man nicht vorher ein paar Seiten. . .). Was mich betrifft, so habe ich die Haltung noch nicht gefunden, in der Arme und Restkörper sich nicht nach Kurzem protestierend melden. Die Ausnahme waren die Betten in den Krankenhäusern mit ihren diversen Verstellmöglichkeiten, aber . . .

So viel über den Vorsatzleser, und man vergebe dem Bücherfreund, dass er für dieses Mal das ständige "Lesen" der elektronischen Apparate draußenvorlässt und nur noch kurz auf das flüchtige Zufallslesen der Werbeplakate, Straßennamen und Geschäftsbeschriftungen hinweist, die vor allem in anderssprachigen Gegenden einen besonderen Reiz entwickeln, da in ihnen mögliche Informationen mit ersten Wahrnehmungen des Ausländischen verknüpft sind. Da ich das Griechische inzwischen einigermaßen entziffern kann, war es in Japan, wo ich zum ersten Mal erlebte, wie es ist, wenn einem alles fremd bleibt.

Voraussetzung zu allem ist ja, dass man die kleinen, so hübsch gekrümmten Zeichen, die nicht von ungefähr BUCHstaben heißen, zu lesen gelernt hat. Lesenkönnen, das wissen wir nicht erst seit den Flüchtlingen, ist überlebensnotwendig, und also ist es der Schulzwang. Es schlummern die herrlichsten Möglichkeiten in uns, aber nur durch das Erlernen der Zeichensprache haben wir Zugang zur Welt und Zugang zu uns selbst und den anderen. Nur wer liest, kann sich bilden, und nur wer sich gebildet hat (denn man muss es selbst tun), weiß, was Zusammenleben bedeutet.

Kluges Paar

UND: Womit wir schon bei dem wären, was dieses kleine Verbindungswort macht, das Peter Handke zu Recht so liebt und das wir mit dem lausigen "undund- und" als Stellvertreter für stammelndes Nichtweiterwissen oder Zufaulsein für sorgfältiges Aufzählen haben verkommen lassen.

Im UND steckt das Wir, es ist die Verknüpfungsvokabel, die Nachbarschaft und vielleicht sogar Gemeinsamkeit, ja Liebe bindet, du und ich, das sind wir. Und der Leser UND sein Buch, was für ein schönes, kluges Paar! Da sitzen die beiden im Eck, harmlos wie ein Katzenkleines, und haben nichts Böses im Sinn. Da will sich einer mit etwas anderem beschäftigen und freut sich darauf, dass er dabei sich selbst begegnen wird. Sich und seinen Ängsten, seinen Hoffnungen, seinen Lüsten und seinen Geheimnissen. Und der Welt in all ihrer Unberechenbarkeit, Schrulligkeit, ihren Möglichkeiten und ihrer Schönheit, die die Sprache so unnachahmlich nachbilden und stimulieren kann.

Musik berauscht und bildende Kunst stimmt hoch, Sprache aber führt uns die Welt vor Augen, zeigt uns ihr Aussehen und gibt uns ein Gefühl für Akkorde, sie zeigt uns, was Sache ist und wie über diese Sache zu denken wäre, was mit ihr anzufangen ist und wo sie hingehört. Die uns verbindende Sprache erlaubt uns das Zurechtkommen im Disparaten und - vielleicht ihre schönste Kraft - sie bringt Licht in unsere Gefühle, und seien es die düstersten, und unsere metaphysischen Ahnungen, und seien es die hellsten. Sprache bringt Schatten ins Grelle und Aufklarung in den Nebel.

Besitznachweis

SEIN: Bücher sind etwas Feines, sie gehören sich. Aber sie gehören auch immer jemandem. Sie haben gekostet, jemand hat bezahlt, und seither gehört es nicht mehr der Buchhändlerin, sondern dem Käufer. Er ist der Eigentümer, es ist Teil seines Besitzes.

Aber natürlich ist das nicht das wahre Zeichen des Besitzes. Auch Bücher, die man geschenkt bekommen hat (oder selbst verschenkt hat), wurden von jemandem bezahlt, der nicht mehr der Eigentümer ist. Das alles aber betrifft nur den materiellen Besitz.

Bücher verlangen aber in Wahrheit einen anderen Besitznachweis: Und das ist die Lektüre. Nur gelesene und auf eigene Art begriffene Bücher gehören tatsächlich jemandem, wobei das Besondere und Buchtypische ist, dass man diesen Besitz mit anderen teilt. Gerade wesentliche Bücher, die einem selbst viel bedeuten, haben auch anderen etwas bedeutet. Man befindet sich damit in einer Gemeinschaft, die in der Regel nicht nur ein Buch, sondern viele ähnliche oder entsprechende und vor allem die Voraussetzungen dieses einen und vieler anderer Bücher und ihrer Inhalte und Haltungen miteinander teilt.

Man ist in einer Runde von Liebhabern, zugleich aber auch Verantwortlichen für die Weitergabe der Grundlagen unserer Kultur. Und die beginnt eben mit dem Lesen, egal ob auf einem Papyrus oder einem Codex, als
e-book oder unter einem Ölbaum vor dreitausend Jahren als Erzählung eines Blinden.

BUCH: Tatsächlich sind wir bei dem angekommen, was wir gewöhnt waren, Buch zu nennen. Da hat sich viel geändert: Zwar gibt es immer noch die unveränderte Situation, dass sich jemand in eine Ecke zurückzieht, um durchgehend einen Text zu lesen. Und zwar nicht irgendeinen (d.h. nicht die Zeitung, nicht die Steuererklärung, nicht den Ikea-Katalog), sondern den eines Autors, also eines Urhebers, der sich allein eine Abfolge von Wörtern und Sätzen ausgedacht hat, mit der eine Geschichte wahrnehmbar und nachvollziehbar geworden ist, an der dem Autor etwas lag und die auch dem Leser nicht gleichgültig bleibt.

Literatur kommt zustande, wenn jemand mit sprachlichen Mitteln etwas formuliert, was Ideen, Vorfälle oder Gefühle von ihm zum Leser transportiert und zugleich eine wunderliche Art von Eigenleben gewinnt, die in der Form des Textes begründet ist: Gelingt das, ist das Einzigar- tige gelungen in einer Art von Geburt, etwas Neues, so noch nie Dagewesenes, etwas, das Blick und Herz auf magische Art festhält und glücklich macht: die Schönheit. Sie ist mehr als das Angemessene, Passende, Stimmige. Sie ist das Unfassbare, Unerhörte, bis dahin Unvorstellbare.

Und all das hat Platz in einem Buch, in einer Sammlung von zusammengehefteten Papierblättern, die bedruckt wurden. Man schlägt es auf und ist wie vom Schlag getroffen. Dazu braucht es nicht viel Platz, denn wir reden hier nicht nur von Romanen. Es gibt die kleine, konzentrierte Form des Gedichts, in dem mit wenigen Wörtern und durch deren seltsame Kombination mit einem Mal etwas geschaffen ist, das dem Menschen zeigt, dass er ewas Besonderes ist. Und ihn da-ran zu erinnern, ist nicht die geringste Aufgabe der Literatur.

Zurück zum Ding Buch, jenem sehr handlichen, kinderleichten Etwas, das aus Papier, Leim und Druckerschwärze gefertigt ist und durch das geniale System des Seite-für-Seite problemlos zu handhaben ist. Es gibt die kleinen Exemplare von Reclam oder Manesse, von denen etwas Kompaktes und Konzentriertes ausgeht, und es gibt die kapitalen Brocken etwa des Taschen Verlags, die nur von zwei Personen bewegt werden können.

Teil des Familiensilbers

Aber welches Format das einzelne Buch auch immer hat, man hat nicht ein Buch oder auch zwei, man hat Bücher, Hunderte, ja Tausende, und Bücher brauchen Platz, Extramöbel, Extrazimmer. Natürlich lässt sich fast alles auch in öffentlichen Bibliotheken finden, aber die Anziehungskraft von Büchern, ja die Liebe zu ihnen verlangt körperliche Nähe. Und was man gelesen hat, hat mit einem einen Prozess der Aneignung durchlaufen, der mit sich bringt, dass man sich nicht trennen möchte, jederzeit wieder zugreifen kann, auch wenn man weiß, dass das nur selten realisiert wird.

Aber man muss nicht den ganzen Proust wiederlesen, es genügt, dass einem auf einmal eine bestimmte Stelle durch den Kopf geht, deren Unschärfe so lange beunruhigt, bis man das Exem-plar aus dem Regal genommen und die Stelle gefunden hat. Nur wenige Bücher erfahren die Ehre, ein zweites oder gar drittes Mal gelesen zu werden, aber schon das erste Mal hat ihnen ein Familienrecht gegeben, eine Aufenthaltsgenehmigung, sie sind Teil der Biographie des Lesers geworden und gehören zu ihm. Und das gilt selbst für Bücher, die man nicht gern gelesen hat: auch die waren für Stunden und Tage freiwillig gewählte Gesellschaft. Bücher sind Teil des Familiensilbers - und so sollten sie auch behandelt werden. Sie altern nicht.

Trennungsdebakel

Nicht nur weil sie nicht umsonst sind, weil sie raumverdrängend und staubfängerisch sind, werden sie nicht von allen geliebt. Der Blick der Hausfrau ist ein anderer als der des Bibliophilen, und seit es die elektronische Verwahrung von Texten gibt, kann man zunehmend Unfreundliches über diese harmlosen und freundlichen Mitbewohner hören. Aber die Tatsache, dass sie auch der Ernährung von Silberfischchen dienen und Versteck für Spinnen und Milben bieten (wie vieles, was in der Wohnung ist und nicht jeden Tag in die Hand genommen wird), kann nicht verdrängen, was Bücher vor allem sind: Freudenbringer, Selbsterfahrer, Klugheitsvermehrer, Unterhalter, Welterschließer. Kein Wunder, dass sie Anhänglichkeit hervorrufen.

Natürlich gibt es auch Überflüssiges, Nicht-Gewolltes und Unnützes in jeder Bibliothek, immer gibt es Bücher, bei denen man bei bestem Willen nicht sagen könnte, wie es zu einem gekommen ist, und immer gibt es Exemplare, von denen man sich auch ohne Kusshand und andere Umstände leicht trennen könnte.

Umzüge gelten als probate Gelegenheit, sich von dem einen oder anderen zu trennen. Dazu kann ich nur sagen: bei meinem letzten Umzug entdeckte ich einen Goldmann-Krimi, von dessen Existenz unter meinen Büchern ich nichts gewusst hatte, und ich beschloss sofort, dass er zu den Büchern gehörte, die ich wegwerfen wollte. Am Ende des Umzugs war er das einzige Stück, dem ich dieses Schicksal - denn es ist eines - zugedacht hatte. Ich besitze es heute noch.

Im Übrigen ist ein Buch - und wir reden hier von guten, gelungenen Büchern - immer auch ein Zukunftsversprechen. Es verspricht Stunden der Beschäftigung mit ihm, die man nicht bereuen wird - und meistens hält es sein Versprechen. Es garantiert schönste Ablenkung, Einblicke und Durchblicke, es eröffnet Gespräche und intensiviert Beziehungen, es bereichert und beglückt, und es gibt dem Kopf und dem Herzen Dinge, Gefühle und Einsichten, die beide nicht vergessen wollen, im besten Fall, weil sich beide, wie immer, wenn es um Kunst geht, gleichermaßen angesprochen und zuständig fühlen.