Ein Machtwechsel in der Türkei wäre eine Sensation.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber an diesem Wochenende darf man einen riskieren: Die Türkei steht vor den wichtigsten Wahlen seit 20 Jahren. Genauso lange steht das Land unter der Führung des jetzigen Präsidenten (und früheren Premiers) und wurde Schritt für Schritt zu Erdoganistan. Recep Tayyip Erdogan hat die Menschen im Land am Bosporus mehr und mehr geknebelt und die türkische Wirtschaft mehr und mehr zerstört.
Eigentlich finden am Sonntag ja zwei Wahlen statt: eine Präsidentenwahl und eine Parlamentswahl. Erdogan ist der Kandidat der islamisch-konservativen AKP, kann sich aber auch der Unterstützung der ultrarechten Partei der Grauen Wölfe (MHP) sicher sein. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu wiederum repräsentiert ein Wahlbündnis aus sechs Oppositionsparteien: seine säkulare Mitte-links-Partei CHP, die Mitte-rechts-Partei IYI und kleinere Gruppierungen, die sich von der AKP abgespalten haben. Kilicdaroglu kann auch auf die Unterstützung der prokurdischen HDP bauen. Diese Allianz tritt mit dem Slogan "Hak, hukuk, adalet" ("Recht, Gesetz, Gerechtigkeit") auf und will dem autoritären Kurs Erdogans eine demokratische Vision entgegensetzen. Es wird eine Rekordwahlbeteiligung erwartet, weil alle wissen: Hier geht es um nichts weniger als die Zukunft ihres Landes.
Die zur Wahl stehenden Kandidaten könnten unterschiedlicher nicht sein: Kilicdaroglu stellt Videos aus seiner Wohnküche auf Twitter, im Hemd sitzt er da, gibt sich bescheiden, spricht über die Sorgen und Nöte der Menschen - Inflation, Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsnot - und vermeidet es, das große Wort zu führen. Und Erdogan? Der amtierende Präsident ist eben, wie er ist und immer war, mit rauer Rhetorik und Gesten am Rande des Größenwahns.
Ein Machtwechsel - und da ist noch so ein Superlativ - wäre eine Sensation und ein Zeichen der Hoffnung. Erdogans Ende wäre der Beweis dafür, dass es möglich ist, eine Ära der starken Männer zu beenden; eine Entwicklung, die der Opposition in Ländern wie Ungarn - wo Viktor Orbán das Land der Magyaren zu einem Orbánistan umgebaut hat - Auftrieb geben würde.
Freilich ist Vorsicht vor zu viel Zuversicht geboten. Denn in Israel hat es der dortige starke Mann Benjamin Netanjahu innerhalb kürzerster Zeit geschafft, nach seiner Abwahl die Macht wieder zurückzuerobern. Erdogan wirkt aber im Gegensatz zu Netanjahu kränklich, müde und verbraucht. Für Europa und den Westen wäre Erdogans Niederlage ein Geschenk: ein Antidemokrat und Putin-Versteher weniger auf dem Parkett der Mächtigen. Am Sonntag (oder erst nach der Stichwahl am 28. Mai) gibt es Gewissheit.