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Die von 2010 bis 2014 verordnete strikte Austeritätspolitik ist nicht nur wesentlich für die gegenwärtige wirtschaftliche Misere im Euroraum mitverantwortlich. Ihr sind auch besonders die öffentlichen Investitionen zum Opfer gefallen. Die öffentlichen Nettoinvestitionen sind überall spürbar bis dramatisch eingebrochen. Mithin schrumpft der öffentliche Kapitalstock im Euroraum, ohne dass sich eine spürbare Besserung abzeichnet.
Statt für eine kräftige Anhebung öffentlicher Investitionen in den Mitgliedsländern zu sorgen, greift die EU-Politik mit Jean-Claude Junckers Investitionsplan nur zu einer mehr oder weniger kreativen Ausweichlösung und verlässt sich ansonsten auf die Geldpolitik, obwohl klar ist, dass diese allein wenig bewirken kann. Wegen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des Fiskalpaktes schreckt die Politik aus Angst vor höheren Budgetdefiziten vor einer direkten Erhöhung der öffentlichen Investitionen zurück.
Die Grundidee derGoldenen Regel
Dabei verstoßen Schuldenbremsen wie Fiskalpakt gegen einen jahrzehntelang weithin akzeptierten finanzpolitischen Grundsatz: die Goldene Regel der öffentlichen Investitionen. Diese ist in der traditionellen finanzwissenschaftlichen Literatur allgemein akzeptiert und schreibt die Finanzierung öffentlicher Nettoinvestitionen durch Budgetdefizite vor. Dadurch trägt sie auch zu Generationengerechtigkeit und Wirtschaftswachstum bei. Öffentliche Investitionen erhöhen den öffentlichen Kapitalstock und schaffen Wachstum zugunsten zukünftiger Generationen. Deshalb ist es gerechtfertigt, dass künftige Generationen auch über den Schuldendienst zur Finanzierung herangezogen werden. Andernfalls tragen heutige Generationen über höhere Steuern oder Ausgabenkürzungen die ganze Last, was die Gefahr einer Unterversorgung mit öffentlichen Investitionen birgt. Genau dies hat sich in der Krise leider eindrucksvoll bestätigt.
Die positiven Wachstumswirkungen öffentlicher Investitionen - in Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung - stützen jüngste empirische Untersuchungen eindrucksvoll: Die Schätzungen kurzfristiger Multiplikatoren zeigen besonders hohe Werte des Multiplikators von öffentlichen Investitionen - in der genannten Abgrenzung - vor allem in Abschwungphasen und Rezessionen. Viele Studien identifizieren öffentliche Investitionen darüber hinaus auch langfristig als Wachstumsverstärker mit hohen gesamtwirtschaftlichen Renditen. Bei den aktuell besonders niedrigen Zinsen ist es also extrem wahrscheinlich, dass sich öffentliche Investitionen gesamtwirtschaftlich rentieren. Ihre Vernachlässigung würde umgekehrt das Wachstumspotenzial der Eurozone herabsetzen und sich damit als Belastung künftiger Generationen herausstellen. Selbst der konservative deutsche Sachverständigenrat wollte zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seiner 2007 entwickelten Blaupause für die deutsche Schuldenbremse die Nettoinvestitionen davon ausnehmen.
PragmatischeKonkretisierung notwendig
Obwohl die Grundidee der Goldenen Regel einfach ist, gestaltet sich ihre Operationalisierung etwas schwieriger. Aus ökonomischer Sicht würde die plausibelste Definition für öffentliche Investitionen auf diejenigen Staatsausgabenkategorien abstellen, die künftig zu höherem Wachstum führen oder künftige Kosten vermeiden.
Eine solche Definition wäre in gewisser Hinsicht enger und in mancher weiter gefasst als die traditionelle Abgrenzung öffentlicher Investitionen in der volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung. Sie wäre enger gefasst, weil militärische Waffensysteme, die in der jüngsten Änderung der Gesamtrechnung miteinbezogen wurden, wieder ausgeschlossen werden müssten, da sie langfristig nicht wachstumsfördernd sind. Sie wäre deutlich umfassender, weil manche Arten von öffentlichen Ausgaben, vor allem die Ausgaben für Bildung, aber auch manche Arten von Ausgaben für Sozial- und Präventionsprogramme, als wachstumsfördernd oder vorteilhaft für künftige Generationen eingestuft werden müssten.
Da die Einstufung bildungsspezifischer und anderer Ausgaben als öffentliche Investitionen mit relativ komplexen technischen Fragen verbunden ist, sollte die Goldene Regel in einem pragmatischen ersten Schritt für traditionelle öffentliche Investitionen laut Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abzüglich der Militärausgaben eingeführt werden. Die Regel sollte für Nettoinvestitionen gelten: Abschreibungen sollten abgezogen werden, sodass ein Anstieg des öffentlichen Nettokapitalstocks korrekt gemessen werden kann. Die so abgegrenzten öffentlichen Investitionen werden in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erfasst und könnten für eine technisch reibungslose sofortige Umsetzung der Goldenen Regel genutzt werden. Dafür sollten sie in den relevanten Defizitgrößen des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des Fiskalpaktes nicht mehr miteinberechnet werden.
Damit dies nicht zu einer Verletzung der finanzpolitischen Nachhaltigkeit durch dadurch dauerhaft hohe Defizite und eine steigende Schuldenstandsquote führt, muss eine Obergrenze der abzugsfähigen Netto-Investitionsausgaben in Höhe von zum Beispiel 1 oder 1,5 Prozent des BIP festgelegt werden.
Mittelfristig feste Verankerung im fiskalpolitischen Regelwerk
Die Goldene Regel für öffentliche Investitionen könnte für einige Zeit annähernd sogar ohne irgendwelche Änderungen des aktuellen institutionellen Regelwerks verwirklicht werden, wenn die EU-Kommission und der Europäische Rat dazu bereit wären, ihren Handlungsspielraum innerhalb dieses Regelwerks auszunutzen. Mittelfristig sollte jedoch am besten eine echte Änderung des finanzpolitischen Regelwerks angestrebt werden.
Hierzu bedürfte es wohl zumindest einer Übereinkunft im Europäischen Rat mit einer entsprechenden Änderung der Ausführungsbestimmungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Eine Vertragsänderung könnte durch ein "Investitionsprotokoll" mittels des vereinfachten Vertragsänderungsverfahrens nach Artikel 48 des Lissabon-Vertrags erfolgen, um völlige Klarheit zu erreichen. Schließlich müssten gegebenenfalls die im Rahmen des Fiskalpaktes beschlossenen nationalen Regelungen wieder geändert werden.
Silberne Regel: Kurzfristig expansive Finanzpolitik
Da die politische Implementation wohl etwas Zeit in Anspruch nehmen dürfte, müsste die Zeit bis zur Einführung der Goldenen Regel kurzfristig durch eine expansive Fiskalpolitik überbrückt werden, um der europäischen Konjunktur den dringend benötigten Rückenwind zu verleihen.
Ähnlich dem Vorschlag des Wifo-Leiters Karl Aiginger könnte der kurzfristig notwendige Fiskalimpuls durch Verwirklichung einer Silbernen Regel im Sinne eines Europäischen Investitionsprogramms ähnlich dem Europäischen Konjunkturprogramm aus dem Jahr 2008 geschehen. Ein solches Programm könnte zudem auch Investitionsbedarfen jenseits der tendenziell engen Definition der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gewidmet sein.
Hier würden sich Ausgaben für Bildung (einschließlich Kinderbetreuung), aber auch ganz allgemein Ausgaben zur Erreichung der unter der Austeritätspolitik stark vernachlässigten Europa-2020-Ziele (wie soziale Integration) geradezu aufdrängen. Der erhebliche Spielraum innerhalb des bestehenden Regelwerks sollte für einen kräftigen expansiven Fiskalimpuls in der Größenordnung von 2 bis 3 Prozent des BIP über die nächsten zwei bis drei Jahre genutzt werden. Möglichkeiten gibt es genug - die EU-Kommission hat in ihrer immer noch zu zaghaften aktuellen Neuinterpretation vom Jänner immerhin bereits die Richtung und die Instrumente vorgegeben.
Die schrittweise Verwirklichung der Silbernen und dann der Goldenen Investitionsregel wären wichtige Elemente einer europäischen Reformstrategie für öffentliche Investitionen und zur Ankurbelung der europäischen Konjunktur. Es bedarf dafür kurzfristig nur dem Willen einer etwas konsequenteren Nutzung der bestehenden Spielräume innerhalb der bestehenden Institutionen. Mittelfristig bedarf es bloß einer relativ kleinen institutionellen Korrektur, um der Goldenen Regel als weithin respektierter finanzpolitischer Leitlinie zu ihrem Recht zu verhelfen und einen wesentlichen ökonomischen Fehler des gegenwärtigen Regelwerks zu beseitigen.
Zum Autor
Achim Truger
ist Professor
für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie und Wirtschaftspolitik, an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Prodekan des dortigen Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften sowie Senior Research Fellow am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf.
Eine detailliertere Fassung dieses Kommentars wurde als "Policy Brief" der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik veröffentlicht: www.oegfe.at/policybriefs