Politologe: Das Kolonialmodell beherrscht weiter den Kontinent.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien/Santiago. Europa startet eine Lateinamerika-Offensive. Nachdem der alte Kontinent in der Krise steckt, besinnt man sich offenbar auf seine ehemaligen Kolonialländer. "Wir sind hier, weil wir eine europäische Sprache teilen", tönt der italienische Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Antonio Tajani, diese Woche in bestem Spanisch auf einem Podium in der peruanischen Hauptstadt Lima. Lange Zeit habe Europa Lateinamerika vergessen, und mit "Russland und anderen ehemaligen Ländern der Sowjetunion gearbeitet", jetzt sei die Zeit gekommen für einen "strategischen Wandel". Im Dezember hat das europäische Parlament einem Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien zugestimmt. "Unsere Kernstrategie ist es, die EU wieder zu re-industrialisieren", erklärt Tajani. Dafür braucht die EU natürlich Rohstoffe - die etwa aus Peru und Kolumbien kommen. Dazu sollen Geschäftsaktivitäten auf beiden Seiten des Atlantiks vereinfacht werden. Damit hat sich die EU schon die zwei wirtschaftskräftigsten Länder aus dem Wirtschaftsbündnis Andenpakt (der noch aus Bolivien und Ecuador besteht) als bilaterale Partner für eine verstärkte Zusammenarbeit herausgepickt.
Am Donnerstag kam etwa der portugiesische EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nach Brasilien, um sich mit Präsidentin Dilma Rousseff zu treffen. Brasilien gilt als Anführer des mächtigsten Wirtschaftsbündnisses Lateinamerikas, des Mercosur, zu dem auch Argentinien, Uruguay und Venezuela gehören. Die Mitgliedschaft Paraguays wurde nach einem Regierungsputsch ruhend gestellt, Paraguay wurde auch nicht zu dem Gipfel nach Santiago de Chile eingeladen, der am Wochenende stattfindet. Außer Paraguay treffen aber Vertreter aus allen lateinamerikanischen Ländern sowie der Karibik, die sich seit 2010 unter dem Namen Celac organisieren (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños), auf Politiker aus der EU. Auch der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann und Außenamts-Staatssekretär Reinhold Lopatka werden anreisen und Chancen für die "Verbesserung der wirtschaftlichen Kooperation" ausloten.
Chiles Politik in der Krise
Chile gilt als Boomland Lateinamerikas und hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Region. Es gehört zu keinem der interkontinentalen Wirtschaftsbündnisse und ist als einziges Land Südamerikas Mitglied der OECD. Unter dem Einfluss von Ökonomen und Strategen mit US-Ausbildung hat das Land schon unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet in den 1970ern eine Hinwendung zur neoliberalen Wirtschaftspolitik vollzogen. Unter dem derzeitigen Präsidenten Sebastian Piñera wird diese Politik fortgeschrieben. Er regiere das Land mit dem höchsten Wachstum in der OECD, verkündete Pinera unlängst. Chile sei auf dem besten Weg, voll zur "entwickelten Welt" zu zählen. "Bis Ende der Dekade haben wir die Armut abgeschafft."
Es regt sich allerdings immer mehr Widerstand gegen die Privatisierungen, vor allem des Bildungssystems. Am bedeutendsten waren die Studentenproteste gegen ein Gebührensystem, das höhere Bildung für weite Bevölkerungsteile praktisch unerschwinglich macht. Vergangenen Dezember musste die konservative Partei eine empfindliche Niederlage bei den Regionalwahlen hinnehmen, derzeitigen Umfragen zufolge verlieren die Konservativen wohl auch die Präsidentenwahl im Dezember 2013.
Doch auch wenn Chile eine sozialdemokratische Führung bekommt, bedeutet das nicht einen Schwenk in der Politik, zumindest nicht bezüglich der Rohstoff-Exporte. Denn mit ihnen finanzieren auch die "neuen" sozialistischen Länder wie Ecuador, Bolivien und Venezuela ihre Wohlfahrtsprogramme. Nach Meinung des deutschen Politologen Raul Zelik, der derzeit an der Universität im kolumbianischen Medellín lehrt, setzt sich durch die Rolle Lateinamerikas als Rohstoffexporteur das koloniale Modell fort. Auch "unter den Linksregierungen wird die völlige Abhängigkeit vom Weltmarkt noch einmal verschärft". Nicht nur wegen der Politik, sondern auch wegen der derzeit hohen Preise auf dem Weltmarkt. Die Konzentration auf Rohstoff-Exporte verunmöglicht in den Augen von vielen eine Entwicklung, weil die Produktion zurückgedrängt und die einheimische Währung überbewertet wird.
"An dem Fluch der Rohstoffe hat sich bisher nichts geändert", meint Zelik. In der Praxis sei eben nur "eine stärkere Rolle des Staates durch die ausgeprägte Rolle der Sozialpolitik" zu beobachten. Das vielfach hochgelobte Brasilien betreibe eine Fürsorgepolitik für die Armen. Deren neue Kaufkraft sei wiederum den Reichen zugutegekommen, denn die einheimische Industrie habe von der neuen Nachfrage profitiert.
Chavismo ohne Chavez
"Eine echte Umverteilungspolitik hat es nur in Venezuela unter Hugo Chavez gegeben", analysiert Zelik. Der Politologe glaubt auch, dass die Entwicklung in Venezuela nicht an dem inzwischen schwerkranken Präsidenten Chavez hängt. "Der Veränderungsprozess hat schon vor Chavez begonnen, in den 1980er Jahren, als weite Teile der armen Bevölkerung sich zunehmend dem neoliberalen Modell verweigert haben. Da gab es Aufstände und eine tiefe Krise des Systems, wo das Land praktisch unregierbar war für die traditionellen Eliten. Chavez ist möglich geworden, weil es diesen Widerstand aus der Gesellschaft schon gab." Insofern ist der Chavismo-Prozess älter. "Ich würde davon ausgehen, dass er auch nach Chavez Bestand hat."