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Die Wiener von morgen

Von Bernd Vasari

Politik

60 Prozent der Volksschüler haben eine andere Muttersprache als Deutsch. Eine gebildete, linksliberale Mittelschicht versucht, ihre Kinder von ihnen abzuschotten. Die rot-grüne Stadtregierung unterstützt sie dabei.


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Wien. Alma und Josef sind schüchtern. Zwar eigenständig, aber auch sensibel. Sie sind große Gruppen nicht gewöhnt. Zu viele Kinder auf einmal machen ihnen Angst. Wir möchten nicht, dass sie dort keine Freunde finden, alleine sind, vielleicht sogar ausgelacht werden. Wir haben uns deswegen gegen die Volksschule gleich ums Eck entschieden. Sie sind in der Schule, die wir ausgesucht haben, besser aufgehoben. In jener Schule, in die auch Frida, Amelie und Jonas gehen. Und nicht Hamid, Milos und Aygül.

Geht es um die Schulwahl ihres Kindes, ist der Weg eines Menschen mit weltoffenem, linksliberalem Multikulti-Anspruch zum kleinbürgerlichen Globalisierungsgegner nicht weit. So, als müssten sie mit ihren Ellbogen tagtäglich um ihr Überleben in dieser Gesellschaft kämpfen, verhalten sie sich wie jene, auf die sie sonst herabsehen.

Das eigene Junggenie mit migrantischen Kindern in eine Klasse geben? Nein, das wäre nur hinderlich für den Lernerfolg. Das Ergebnis: Eine schleichende Entmischung an Wiens öffentlichen Schulen. Nach der Oberschicht, die ihre Kinder in Privatschulen schickt, möchte nun auch die gebildete Mittelschicht unter sich bleiben. Die rot-grün geführte Stadt Wien spielt dabei mit.

Es gibt klare Regeln, welches Kind in der jeweiligen Volksschule einen Platz bekommt. Es zählt die Wohnortnähe und ob bereits ein Geschwisterkind die Schule besucht. Sollte dann noch Platz frei sein, können auch Kinder aufgenommen werden, die beide Kriterien nicht erfüllen. Die Regeln sind eindeutig. Doch sie werden umgangen.

Hamid, Milos, Aygül haben keine Chance

Ein beliebter Trick ist das Ummelden seiner Kinder bei Bekannten, die in der Nähe der ausgesuchten Schule wohnen. Doch noch sicherer ist es über die Stadt selbst. Recherchen der "Wiener Zeitung" ergaben, dass dies System hat. Kinder, die weder ums Eck wohnen noch Geschwisterkinder in der Schule haben, kommen in die Schule. Hamid, Milos, Aygül, die näher wohnen, haben keine Chance. Sie werden den sogenannten Brennpunktschulen im Bezirk zugeordnet. Es sind Schulen mit der höchsten Risikogruppe: Das Familieneinkommen ist gering, die Familiensprache ist eine andere als Deutsch.

"Da rennt ein gut geöltes Werkl vor sich hin", sagt Susanne Jerusalem, die 20 Jahre Bildungssprecherin der Grünen im Gemeinderat war. Es gebe viele Sonntagsreden, nur gegen die zunehmende Trennung von Bevölkerungsgruppen werde nichts getan. Mit den politischen Verantwortlichen geht sie hart ins Gericht: "Bürgermeister Häupl hat sich in den vielen Jahren nicht dafür interessiert. Er hatte keine Ahnung, er redete einfach irgendwas." Zum vorhergehenden Bildungsstadtrat Christian Oxonitsch sagt sie: "Das war gar nichts." Und zur langjährigen Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl: "Das war eine Katastrophe. Sie war nur eine Verwalterin."

Sie fordert eine politische Haltung, die klar regelnd eingreift. "Die Anmeldung bei Freunden sollte unterbunden werden. Dass es sich einige richten können, ist falsch", sagt sie. Jerusalem appelliert an Bürgermeister Michael Ludwig, Stadtschulratspräsident Heinrich Himmer und Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky. "Diese drei Personen könnten sofort handeln, große Linien vorgeben, ein Konzept entwickeln."

Die Entscheidung über die Aufnahme an einer Volksschule kann von unterschiedlichen Stellen erfolgen. Meistens ist es die Direktion der Schule, die sich für ein Kind entscheidet. Warum die Schule das Kind aufnimmt, wird nicht begründet. Die Direktion kann jedoch von einer höheren Instanz per Weisung überstimmt werden. Oftmals ist es die Bezirksschulinspektion, es gibt aber auch Akteure im Stadtschulrat, die sich per Weisung durchsetzen. Wer dahintersteht, ist schwer nachvollziehbar.

Weisungen von oben

"Der Stadtschulrat ist ein Riesen-Moloch", sagt eine Volksschuldirektorin, die nicht namentlich genannt werden will. "Man weiß nicht, wer die Fäden in der Hand hält." Die Direktorin hat versucht, die Wohnumgebung der Schule in ihren Klassen abzubilden. Vergebens. Sie erhielt Weisungen, welche Kinder aufzunehmen sind und welche nicht.

Jerusalem kennt das Problem. Es müsste begründet werden, warum ein Kind aufgenommen wird, fordert sie. Dann sei es nachvollziehbar. Die Direktoren und Inspektoren müssten sich dann aber auch an die Regeln halten.

Heinz Vettermann rührt in seinem Schwarztee. Seit 20 Jahren ist er Bildungssprecher der Wiener SPÖ, seit 24 Jahren Vorsitzender der SPÖ Josefstadt. Die Frage, ob die SPÖ bei der Entmischung an Wiens Schulen etwas verschlafen hat, kostet ihn ein müdes Lächeln. Er zuckt kurz mit den Achseln. Dann erzählt er von der gebildeten Mittelschicht, die in den vergangenen Jahren in die oberen Stockwerke rund um den Brunnenmarkt gezogen ist. "Zum Wohnen ist es dort bunt und lustig. Die Kellner sind immer so nett und es gibt ein gutes Essen." Nur wenn das Kind in die Schule kommt, hört der Spaß auf. "Da geben sie das Kind lieber in die Josefstadt."

Im Gegensatz zu den Schulen am Brunnenmarkt gibt es im Nachbarbezirk Josefstadt kaum Schüler mit Migrationshintergrund. Vettermann versucht gar nicht zu leugnen, dass es bei der großen Wanderung vom Brunnenmarkt in Richtung Josefstadt nicht mit rechten Dingen zugeht. "Es gibt immer wieder Interventionsversuche bei mir", sagt er. Auch die zahlreichen Ummeldungen der Kinder zu Bekannten in der Josefstadt sind ihm bekannt.

Sollte man dem nicht einen Riegel vorschieben? "Verbieten wird man das schwer können", antwortet er. "Wir haben keine Schulgeheimpolizei. Und wir wollen das Elternrecht, sich anzumelden, nicht beschneiden."

Mit Grauen erinnert er sich an den Versuch der Grätzlschulen zurück. Die Eltern mussten dabei ihre Kinder in die Schule ums Eck geben. "Es gab dagegen massiven Elterndruck, dem wir schließlich nachgegeben haben", sagt der Bildungssprecher. Er denkt nicht daran, diesen Versuch zu wiederholen. "Das wäre ein Riesen-Kraftakt", sagt er. "Argumentativ schwer durchzusetzen, weil es die Akzeptanz dafür nicht gibt." Über die Bildungspolitik der Stadt befindet er: "Wir bemühen uns, was Schulpolitik betrifft. Den Stein der Weisen haben wir aber noch nicht gefunden."

Die große Furcht der Mittelschicht liegt im Abstieg. Das Kind soll also am besten gar nicht mit jenen in Berührung kommen, die es schlechter haben. Dabei belegen Studien, dass Bildung vererbt wird. Das zeigt auch die aktuelle OECD-Studie "Education at a Glance 2017" (Bildung auf einen Blick). Der Anteil der Hochschulabsolventen, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, liegt bei nur 5,9 Prozent der 45- bis 59-Jährigen bzw. bei 10,1 Prozent der 30- bis 44-Jährigen. Österreich ist damit internationales Schlusslicht. Den Nachteil haben also bildungsferne Schichten.

Czernohorszky "kann den Eindruck nicht nachvollziehen"

Die schleichende soziale Entmischung an Wiens Volksschulen verfestigt diese Tatsache. Handlungsbedarf wäre also gegeben, vor allem in einer Stadt, dessen Bildungsbereich von einer sozialdemokratischen Partei geführt wird. Jürgen Czernohorszky hat in der Partei eine Blitzkarriere hingelegt. Der 41-Jährige war vier Jahre Geschäftsführer der Kinderfreunde, zwei Jahre Stadtschulratspräsident, bevor er vor einem Jahr Bildungsstadtrat wurde. Für viele in der Partei wurde er sogar als Nachfolger von Bürgermeister Michael Häupl gehandelt, der vergangene Woche sein Amt zurückgelegt hat.

Wie er sich die Entmischung erklärt? Der Bildungsstadtrat weiß nicht, wovon die Rede ist. "Den Eindruck kann ich nicht nachvollziehen", sagt er. So, als würde es die zunehmende Segregation zwischen den Schichten gar nicht geben, verweist der Bildungsstadtrat auf die "eindeutigen Regeln", Wohnortnähe und Geschwisterkind. "Da wären Mitarbeiter im Stadtschulrat schlecht beraten, diese Regeln nicht einzuhalten."

Auch Czernohorszky wiederholt das vermeintliche Paradigma. "Nur, wenn es noch freie Plätze gibt, kommen anderen zum Zug", erklärt er. "Wir haben aber volle Schulen." Er ergänzt: "Sollte ein Kind, das um die Ecke wohnt, keinen Platz bekommen, so ist es auch eine Auszeichnung für den jeweiligen Bildungsstandort, dass so viele Menschen Interesse zeigen."

70 Prozent aller Wiener im Alter zwischen 0 und 10 haben Migrationshintergrund, zumindest ein Elternteil ist im Ausland geboren. Tendenz steigend. Bei der Einschreibung in die Volksschule wird die Muttersprache des Kindes erhoben. Laut Stadt Wien haben 60 Prozent der Wiener Volksschüler eine nicht-deutsche Muttersprache.

Aber was heißt nicht-deutsche Muttersprache? Auf den ersten Blick klingt es so, als würden 60 Prozent der Volksschüler nicht deutsch sprechen. Doch das ist falsch. Laut Erhebungen der Stadt sprechen 85 Prozent dieser Kinder so gut deutsch wie Kinder mit deutscher Muttersprache. Doch anstatt die Mehrsprachigkeit hervorzuheben, bleibt das Stigma der nicht-deutschen Muttersprache.

"Muttersprache ist nur ein Terminus technicus"

Sollte bei der Anmeldung nicht die Möglichkeit bestehen, mehrere Sprachen anzugeben? "Da gebe ich ihnen recht", sagt Czernohorszky. "Es muss das Ziel eines Bildungssystems sein, dass Kinder mehrsprachig sind", erklärt er. "Mein Ziel ist, dass Kinder dreisprachig sind, eine davon Deutsch. Es wäre ein Verbrechen, wenn wir die Mehrsprachigkeit nicht fördern würden." Auch, wenn bei der Anmeldung nur die Muttersprache abgefragt wird, so sollte man ebenso die anderen Sprachen des Kindes hinschreiben, sagt er. Ob er das Formular anpassen wird? Czernohorszky: "Muttersprache ist nur ein Terminus technicus."

Schüler, die ihre Volksschulzeit in einer Brennpunktschule absolvieren, haben es schwerer, den Sprung in die AHS zu schaffen. Für viele AHS-Direktoren überstrahlt das schlechte Image der Schule die tatsächliche Leistung und das Können des Schülers. Die Noten zählen nicht, oder zumindest nicht so viel, wie aus anderen Schulen.

"Ich weiß, dass es so ist, die Eltern wissen es auch", sagt Heinrich Himmer, Stadtschulrats-Präsident. "Und weil die AHS-Unterstufen so selektiv vorgehen, setzen Eltern alles in Bewegung, damit ihr Kind unter seinesgleichen bleibt." So wie Czernohorszky hat auch Himmer einen schnellen Weg nach oben zurückgelegt. Fünf Jahre war der 39-Jährige Gewerkschafts-Vorsitzender der berufsbildenden mittleren und höheren Schulen. Vor einem Jahr wurde er Stadtschulrats-Präsident.

Im Gegensatz zum Bildungsstadtrat erkennt er das Problem. Die Angst vor den migrantischen Schulkollegen werde auch durch die Medien befeuert, kritisiert er. "Die Botschaft lautet: Wenn viele Kinder in einer Klasse sitzen, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, dann leidet darunter auch das Kind mit deutscher Erstsprache." Die Eltern würden das glauben. Dabei seien die Klassengemeinschaft und der Lehrer viel entscheidender.

Widerstand in der Bevölkerung

Mit zwei Maßnahmen möchte er der Entmischung an den Wiener Volksschulen entgegensteuern. So sollen Schulen mit größeren Herausforderungen ab dem Schuljahr 2019/20 mehr finanzielle Mittel bekommen. Außerdem setzt er auf das Projekt der Bildungsgrätzel. Dabei sollen verschiedene Schulen zusammenarbeiten. "Die Initiative muss aber von den Schulen selbst kommen. Sie müssen aber nicht."

Ob das reicht? Auch Himmer delegiert die Verantwortung weiter: "Es ist eine gesellschaftliche Geschichte, die wir nur gemeinsam lösen können." Regulativ eingreifen möchte er nicht. Man könne die Eltern nicht zwingen, ihr Kind in die nächstgelegene Schule zu geben. "Das würde einen großen Widerstand in der Bevölkerung auslösen."

Machen es sich die verantwortlichen politischen Akteure in dieser Frage nicht zu einfach? Müssten sie der schleichenden Entmischung Wiens nicht mehr entgegensetzen? Der Soziologe Pierre Bourdieu fragte einmal: "Was ist die wirkliche Funktion eines Bildungssystems, das funktioniert, indem es während der Schulzeit die Kinder der unteren Schichten aus der Schule eliminiert?" Doch genau auf so ein Bildungssystem steuert Wien gerade zu. Eines, das ungleiche Berufschancen produziert, die Durchlässigkeit zwischen den Schichten verhindert.

Das führt zu der Frage, wie die Wiener von morgen zusammenleben sollen. Geht es nach dem Selbstverständnis ihrer Eltern, dann wird Wien eine Gesellschaft von unterschiedlichen Schichten haben, die keine Berührungspunkte mehr zueinander haben. Wer seine Kinder in die Josefstadt schickt, bewirkt genau das. Oder tut es so weh, Alma neben Aygül zu setzen?