Morde an Juden werden 70 Jahre nach Auschwitz zum Teil europäischer Lebenswirklichkeit.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Dass der Wiener ÖVP-Obmann Manfred Juracka neuerdings Juden aus anderen EU-Ländern einlädt, sich in Wien niederzulassen ("Jüdische Mitbürger, die sich in einem anderen Land - ich denke da an Frankreich oder Ungarn - unsicher fühlen, sind uns willkommen"), mag eine freundliche Geste sein, basiert aber auf der leider recht problematischen Prämisse, dass Juden in Wien deutlich weniger gefährdet seien als im übrigen Europa.
Das lässt sich vielleicht hoffen, aber sicher nicht beweisen. Faktum ist jedenfalls, dass in der EU des Jahres 2015 wieder Juden getötete werden, weil sie Juden sind, in Frankreich, in Belgien und jüngst in Dänemark. Und niemand kann ausschließen, dass so etwas morgen in Zürich, München oder Wien passiert. Europa, und zwar ganz Europa, ist für Juden heute kein so sicherer Platz wie für Nichtjuden. Wer anderes behauptet, redet sich die Wahrheit schön.
Und trotz der Geschichte des europäischen Kontinents wird dieser Umstand von der Politik und von der Öffentlichkeit nicht wirklich mit der angemessenen Urgenz und Intensität beachtet. Natürlich greift die Politik nach jedem neuen Mord an Juden zu handelsüblichen Betroffenheitsfloskeln; dass die EU (die dabei freilich wenig Kompetenzen hat) oder eben deren Mitgliedstaaten Europa mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu einem sicheren Platz für Juden machen, ist derzeit nicht so recht zu beobachten. Stattdessen sieht es langsam so aus, als würden antisemitisch motivierte Morde zu einem Teil der europäischen Lebenswirklichkeit. Man kann das nicht anders bezeichnen denn als Schande Europas.
Jene europäischen Politiker, die Israel bei jeder Gelegenheit moralisch belehren, sind nicht imstande, die Unversehrtheit der Juden im eigenen Land zu gewährleisten. Wer dafür verantwortlich ist, dass tausende Juden nach Israel fliehen, ist vielleicht nicht ideal dafür geeignet, ausgerechnet über die dortige Siedlungspolitik zu richten.
Den Preis für die fehlende Entschlossenheit Europas im Kampf gegen mörderischen Antisemitismus werden übrigens nicht nur die Juden zu entrichten haben, wie manche vielleicht im Stillen hoffen mögen. Denn mit jedem neuen Anschlag in Europa werden sich auch die Nichtjuden die Frage stellen, ob es wirklich ratsam ist, etwa eine Diskussion über die Meinungsfreiheit zu besuchen, ein islamkritisches Buch zu schreiben oder zu verlegen oder sonst etwas zu unternehmen, das im islamistischen Milieu zu übler Laune und den damit verbundenen Unmutsäußerungen führen könnte. Und nein, das ist keine bloße Gedankenübung. Ausgerechnet im angeblich so besonders sicheren Wien wurde erst vor einigen Wochen eine Podiumsdiskussion mit einem renommierten deutschen Islamexperten abgesagt, weil den Verantwortlichen die Gefährdungslage zu heikel war. In Deutschland wurde diese Woche eine der größten Karnevalsveranstaltungen von der Polizei kurzfristig verboten, weil ein Terroranschlag zu befürchten war. (Das mag unter ästhetischen Gesichtspunkten vorteilhaft gewesen sein, kommt aber einer Kapitulationserklärung unangenehm nahe.)
Leider stimmt nicht, dass der islamistische Terror unser Leben zu verändern droht - er verändert es bereits. Und das ist nicht gut so.