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Die Wissenskluft wächst weiter

Von Bettina Figl

Politik

Österreich wird bei Pisa 2012 wieder einmal Chancenungleichheit bescheinigt.


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Wien. Eine halbe Stunde vor der Präsentation der Pisa-Ergebnisse ist der Presseclub Concordia gut gefüllt. Greift einer der Journalisten aus purer Gewohnheit nach den Presseunterlagen, wird er zur Geduld gemahnt: Erst um Punkt 11 Uhr dürfen die Schularbeits-, Pardon, Pressehefte geöffnet werden. Dann kollektives Aufatmen: Österreichs 15- bis 16-jährige Schüler haben bei Pisa 2012 besser abgeschnitten als zuletzt.

"Pisa 2012 markiert einen Wendepunkt", sagt Claudia Schmied bei der Pressekonferenz, die ihr letzter großer Auftritt als Bildungsministerin ist. Die OECD hingegen verweist darauf, dass Österreichs Werte im Großen und Ganzen konstant sind. Es ist eine Frage der Interpretation. Schmied bezieht sich auf die Daten des Pisa-Tests 2009, im Vergleich dazu haben Österreichs Schüler 2012 in allen Bereichen besser abgeschnitten (siehe Grafik).

Die OECD jedoch traut diesen Daten aus 2009 aufgrund eines Boykottaufrufs von Schülervertretern aber nicht ganz und sagt, die Vergleichbarkeit der Daten aus 2009 mit jenen der anderen Pisa-Studien könne nicht gewährleistet werden. "In Österreich herrschte 2009 eine negative Stimmung gegenüber Bildungserhebungen, die einen ungünstigen Einfluss auf die Motivation der Schüler bei der Beantwortung der Pisa-Aufgaben gehabt haben könnte", sagte der stellvertretende OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, der bei der Pressekonferenz live aus Washington zugeschaltet war, um die Österreich-Ergebnisse aus OECD-Sicht zu interpretieren.

Doch zunächst die Fakten: Ein Viertel der 15- bis 16-Jährigen erreicht in Mathematik, Lesen oder Naturwissenschaften nicht einmal Mindeststandards. Elf Prozent gehören sogar in allen drei Bereichen zur Risikogruppe, und jeder fünfte Schüler kann nicht sinnerfassend lesen, wenn er die Pflichtschule verlässt.

Beim Lesen, bekannterweise ein österreichisches Problemfeld, liegt das Land signifikant unter dem OECD-Schnitt, hinter den Nachbarländern Schweiz und Deutschland. Seit dem Beginn von Pisa schneiden Mädchen beim Lesen deutlich besser ab als ihre männlichen Kollegen, so auch bei Pisa 2012. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern liegt in Österreich mit 37 Punkten aber im OECD-Schnitt.

In Mathematik haben Österreichs Schüler zwar deutlich besser abgeschnitten als die meisten anderen OECD-Länder (siehe Grafik), das Fach sei eine "traditionelle Stärke des österreichischen Systems", sagt Schleicher. Er wünscht sich aber zugleich mehr Dynamik bei den Veränderungen, wie sie etwa in Deutschland oder Polen stattgefunden haben. Dort habe man früher mit der Erkennung von Schwächen begonnen.

Außerdem zeigt Pisa, dass Österreichs Schüler beim Lösen von Mathe-Beispielen nach Schema F ganz gut sind, jedoch kaum analytisches oder konzeptuelles Verständnis von Mathematik aufweisen. Noch mehr Sorge bereitet ihm, dass im Schwerpunktfach Mathematik die Wissenskluft zwischen Mädchen und Buben besonders groß und weiter angewachsen ist. Im Vergleich zu 2003, als Mathe wie 2009 im Fokus von Pisa stand, ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern deutlich gewachsen. Lagen die Buben 2003 noch acht Punkte vorne, sind es nun 22, das ist der größte Zuwachs unter allen Teilnahmeländern.

Und das schlechtere Abschneiden geht mit einer besonders negativen Selbsteinschätzung der Mädchen einher: Zwar nehmen Burschen in allen Teilnahmeländern ihr mathematisches Können positiver wahr als ihre Mitschülerinnen, in Österreich liegen die Werte aber relativ hoch über dem OECD-Schnitt. "Über das Auseinanderdriften zwischen Buben und Mädchen in der Mathematik sollte sich Österreich Sorgen machen", sagt Schleicher. Interessantes Detail: Island ist das einzige Land, in dem die Mädchen im Rechnen besser abschneiden als die Burschen.

Doch nicht nur Geschlecht, auch Bildung der Eltern und Migrationshintergrund beeinflussen den Erfolg der Schüler in Österreich maßgeblich; die OECD bescheinigt Österreich wieder einmal wenig Chancengleichheit. Auffallend ist, dass Jugendliche mit migrantischem Hintergrund bei Pisa 2012 weltweit besser abschnitten - nicht aber in Österreich. Während einheimische Schüler - laut OECD-Definition sind das Jugendliche, bei denen zumindest ein Elternteil in Österreich geboren wurde - in Mathematik 516 Punkte erreichten, kamen migrantische Jugendliche der zweiten Generation auf 458, der ersten Generation auf 454 Punkte. In den anderen OECD-Ländern konnten die Migranten die Leistungsunterschiede zu den Einheimischen seit 2003 um elf Punkte verringern. Ganz anders in Australien: Dort liegen Migranten klar vor Einheimischen.

Wie sind diese Ergebnisse nun zu interpretieren? Werden sie in bildungspolitische Maßnahmen münden und Auswirkungen auf den Schulalltag haben? "Ich hoffe es", sagt Christa Koenne, einst viele Jahre AHS-Direktorin. Bei den traditionell Pisa-skeptischen Lehrern sollte die Botschaft ankommen, dass sich ihre Anstrengungen auszahlen, denn "Misserfolg ist kein Motivator". Sie gibt sich optimistisch, dass die Pisa-Ergebnisse auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen Gehör finden und der Weg für eine gemeinsame Schule geebnet wird, eine "Gesamtschule light" wurde zuletzt ja diskutiert, war dann aber doch recht schnell wieder vom Tisch. Doch Schüler nach der Volksschule in verschiedene Schulen zu schicken, sei antiquiert, so Koenne: "Niemand käme heute auf die Idee, Neuneinhalbjährige in zwei verschiedene Schulen zu stecken", sagt Koenne. Sie hofft, dass diese "Skurrilität unseres Schulsystems" bald passé ist, ebenso wie das Sitzenbleiben, das in allen Pisa-Spitzenländern bereits abgeschafft wurde.

Apropos Skurrilität: Das Team Stronach glaubt, dass Österreichs Schüler bei Pisa nur deshalb so gut abgeschnitten haben, weil sie geschummelt haben, und zwar weil man beim Lesen lernen muss und beim Rechnen leichter tricksen kann. Wie gesagt, alles eine Frage der Interpretation.