In Zukunft sollen statt handfester Bücher E-Books gesammelt werden.
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Wien. Sie bilden eine Schatztruhe des Wissens, die Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek (ONB), die derzeit acht Millionen Objekte umfassen und ständig mehr Platz brauchen. Im "Sammeln, Bewahren, Vermitteln, Dokumentieren und Forschen" sieht die ONB ihre Hauptaufgaben, und um diese kreist auch die "Vision 2025", die ONB-Generaldirektorin Johanna Rachinger am Freitag in Wien der Öffentlichkeit präsentierte. Die ONB wirft damit als erste Kulturinstitution Österreichs einen solchen Blick in die Zukunft. Zugleich erklärte Rachinger, dass die ONB nach einer noch nötigen Mediengesetznovelle - von Ausnahmen abgesehen - nicht mehr Bücher, sondern E-Books als Pflichtexemplare bekommen wolle. Bis dahin werde aber der geplante Bücherspeicher unter dem Heldenplatz noch dringend gebraucht, jährlich kämen noch 50.000 neue Bände herein.
Die Vision zeigt eine Einrichtung, die sich, so Rachinger, "von der traditionellen Gelehrtenbibliothek des 20. Jahrhunderts zum offenen Wissenszentrum des 21. Jahrhunderts" entwickelt hat. Die fünf Themenfelder der ONB-Vision wurden von Bettina Kann, Leiterin der Abteilung "Digitale Bibliothek", und Max Kaiser, Leiter des Bereichs "Forschung und Entwicklung", an konkreten Beispielen erläutert.
Erstens sollen die Bestände digitalisiert sein. Eine junge Historikerin sucht Zeitungsberichte aus dem Jahr 1989 über den Tod von Kronprinz Rudolf? Dank des 2025 komplett digitalisierten Zeitungsarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek mit Volltextsuche hat sie binnen weniger Sekunden eine Liste der relevanten Artikel auf ihrem Bildschirm.
Zweitens will die ONB Wissen in jeder Form sammeln und sichern. Erhält zum Beispiel ein Journalist als Zeuge in einem Prozess gegen einen umstrittenen Politiker den Hinweis, dass es im Internet zehn bis fünfzehn Jahre davor Material in dieser Sache gab, so kann er 2025 leicht fündig werden: auf archivierten Webseiten, wie sie unter anderem im Webarchiv Austria der Nationalbibliothek gespeichert sind.
Drittens soll der Zugang zum Wissen einfacher sein. Angenommen, ein Unternehmer kommt auf die Idee, historische Werbungen zu vermarkten und entdeckt ein dafür sehr geeignetes Plakat für die Sonnenbrandcreme "Gänsehäufel" aus dem Jahr 1914. Wo? In den digitalisierten ONB-Beständen, in denen man auch in Anzeigenteilen von Zeitungen und nach Plakaten suchen kann.
Dass Forschung vielfältiger und effektiver wird, ist Punkt vier der Vision. Infolge der globalen Fortschritte punkto Vernetzung und Digitalisierung werden zum Beispiel Papyrologen bei der Untersuchung digitalisierter Fragmente mit einem Programm arbeiten, das Textbausteine mit anderen digitalisierten Textstellen in Datenbanken weltweit vergleicht. Papyri, die im Laufe der Geschichte in alle Welt verstreut wurden, können so im Web wieder zusammenwachsen.
Schließlich will die ONB, fünftens, das kulturelle und gesellschaftliche Leben bereichern: Besucht 2025 ein Tourist das geplante Literaturmuseum der ONB in der Wiener Johannesgasse, so kann er mit einem Code über die digitale Schnittstelle seiner Spezialbrille interaktive Angebote aktivieren, zum Beispiel sich ein Gedicht, dessen Autograf ausgestellt ist, vom Dichter Ernst Jandl vorlesen lassen. Und er kann daheim seiner Frau am Bildschirm die ganze Ausstellung vorführen.
Ansatzweise sind all diese Dinge schon im Gange. Seit 2009 werden österreichische Webseiten gespeichert, die Datenmengen (man hält bei 14 Terabyte) halten sich im erwarteten Rahmen. Das geschieht vor allem "für die Nachwelt", sagt Bettina Kann, die derzeitige Nutzung dieses Langzeitarchivs ist gering. Auch die Web-Portale österreichischer Zeitungen werden täglich gespeichert, die einzelnen Artikel aber noch in der digitalisierten Printversion.
Aufgrund des Urheberrechts, an das sich auch die ONB streng halten muss, sind Zugriffe von außen nur auf nicht mehr geschützte digitalisierte Werke möglich. E-Books ihrer urheberrechtsfreien Bestände bieten auch andere österreichische Bibliotheken mit steigenden Nutzerzahlen an.
"Informationskompetenz"
als neue Herausforderung
Nach ihren Zukunftsvisionen befragt, nennt Ursula Schachl-Raber, Direktorin der Universitätsbibliothek Salzburg, neben dem Ausbau der Digitalisierung noch andere Arbeitsfelder: Es sei eine "ganz große Herausforderung an Bibliotheken, in unserer Google-verwöhnten Zeit Informationskompetenz zu vermitteln". Es gehe darum, die Menschen zu befähigen, Rechercheergebnisse aus Suchmaschinen, die auf einen eingegebenen Begriff Millionen Antworten liefern, richtig zu bewerten. Auch könnten Bibliotheken noch mehr als "Lernorte", aber auch "Wohlfühloasen" dienen, indem sie Zonen der Stille, des Ausruhens, aber auch des Diskurses anbieten. Weiters ist Schachl-Raber der freie Zugang zur Wissenschaft ("Die ständig steigenden Kosten für Fachmagazine bringen Bibliotheken wie unsere an den Rand des Ruins") ein Anliegen. Und sie wünscht sich, dass bis 2025 alle Fragen einer allfälligen Restituierung von Büchern geklärt werden können.