Petritsch: EU-Aufnahmestopp spielt in die Hände korrupter Politiker am Balkan.
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"Wiener Zeitung": Kroatien wird der EU per 1. Juli 2013 beitreten. War das für längere Zeit der letzte Beitritt?Wolfgang Petritsch: Ich bin überzeugt, dass Slowenien die Zustimmung geben wird, weil die Folgen für die Nachbarschaftsbeziehungen und die Europäische Union sonst unabsehbar wären. Das würde weit in die Zukunft hinein negativ wirken. So viel politische Verantwortung gibt es in Slowenien trotz der innenpolitischen Schwierigkeiten.
Wiener Zeitung: War das Verzögern dann rein verhandlungstaktischer Natur?
Wolfgang Petritsch: In dem Konflikt geht es insbesondere um Auffassungsunterschiede, wer für die Auszahlung von Verbindlichkeiten der Ljubljanska Banka verantwortlich ist. Ich hatte selbst einmal die Verhandlungen über die Aufteilung der Assets und Liabilities des alten Jugoslawien auf die Nachfolgestaaten zu leiten. Schon damals war die Ljubljanska Banka ein Problem, vor allem zwischen Slowenien und Bosnien, weil es sehr viele Verbindlichkeiten in Richtung Privatkunden gab. Spannungen sind seit langer Zeit vorhanden, aber beide Seiten wissen, jetzt muss es eine Entscheidung geben.
Wiener Zeitung: Wird Kroatiens EU-Beitritt für längere Zeit der letzte gewesen sein?
Petritsch: Ich nehme an, dass es auf einige Jahre hinaus der letzte gewesen sein wird. Einige Staaten inklusive Österreich haben sich Restriktionen auferlegt, wonach es eine Volksabstimmung für eine Aufnahme geben müsste. Die anderen Staaten, die in Richtung EU unterwegs sind, haben auch noch tiefergehende Schwierigkeiten. Zudem hat man aus der etwas zu unbekümmerten Aufnahme von Bulgarien und Rumänien gelernt. Mit Zypern hat man sich ein ungelöstes Problem in die EU geholt. Solange es in der Region solche Probleme gibt, insbesondere die Frage Kosovo, wird es keine Zustimmung geben. Andere Mitgliedstaaten haben hier eine noch wesentlich restriktivere Linie als wir.
Wiener Zeitung: In der vergangenen Woche haben Präsident Tomislav Nikolic aus Serbien und Präsidentin Atifete Jahjaga aus dem Kosovo einander erstmals die Hand gereicht. Nikolic‘ Reaktion war aber sehr verhalten. War das ein Fort- oder Rückschritt?
Petritsch: Im Symbolbereich bedeutet das einen enormen Fortschritt. Schon einige Wochen vorher fand das Treffen der beiden Premierminister Ivica Dacic (Serbien, Anm.) und Hashim Thaci (Kosovo) statt. Da setzt sich jetzt doch Realismus und ein gesundes Maß an politischer Pragmatik durch. Man hat in Serbien realisiert, dass man sonst nicht weiter kommt. Das zeigt, dass – trotz des dramatischen Popularitätsverlustes der EU – die Union immer noch große Attraktion ausübt. Selbst nationalistische Politiker, insbesondere in Serbien, wagen es nicht, diese europäische Karte einfach wegzuwerfen. Letzten Endes ist also die politische Dramatik, die mit Kosovo verbunden ist, eher rhetorisch, die europäische Integration aber für die Serben sehr real.
Wiener Zeitung: Dann ist der Fortschritt eher atmosphärisch als inhaltlich?
Petritsch: Inhaltlich gibt es seit längerer Zeit technische Gespräche über Maßnahmen an der Grenze. Insbesondere im Nordkosovo, der nicht unter der Verwaltung Pristinas/Prishtinas steht, sollen Parallelstrukturen abgebaut und Recht und Ordnung hineingebracht werden. Der Nordkosovo ist momentan rechtsfreier Raum, was Probleme wie Schmuggel oder Migration befördert: Dinge, die letzten Endes auch uns betreffen.
Wiener Zeitung: Sie haben den Attraktivitätsverlust der EU erwähnt. Werden sich die fraglichen Länder nicht zwangsläufig weiter entfernen, wenn man ihnen auch noch Beitrittsperspektiven raubt?
Petritsch: Wir beobachten schon seit 2005, seit den missglückten Referenden in Frankreich und den Niederlanden, eine introspektive Kehrtwende der EU. Seit Beginn der großen Krise 2008 hat sich die EU aus Südosteuropa zurückgezogen– politisch, nicht so sehr mit den Programmen in Bereichen wie Verwaltungsreform, Wirtschaftsaufbau, Bildung, Kultur. Die laufen sehr bürokratisch weiter, wie ein Automatismus. Die politische Botschaft, dass das die Voraussetzung für einen eventuellen späteren Beitritt ist, wird aber konterkariert durch Aussagen über einen Aufnahmestopp. Das ist völlig falsch. Es geht nicht um die Aufnahme morgen oder übermorgen, sondern um den Prozess, dass diese Staaten sich Schritt für Schritt an die Strukturen und Werte der EU heranarbeiten. Fordert man einen Stopp, signalisiert man ihnen, diesen Prozess zu beenden. So wird das aufgenommen: "Die wollen uns ohnehin nicht." Im Moment fühlen sich die Menschen in Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien noch viel zu weit weg von der konkreten Vorstellung: "Da können wir in absehbarer Zeit dabei sein." Das schafft Hoffnungslosigkeit, führt zur Renationalisierung und Verknöcherung, nimmt den Reformdruck und spielt in die Hände korrupter Politiker. Das Urteil gegen den kroatischen Ex-Premier Ivo Sanader war eine Warnung für einige Politiker, besonders in Bosnien: "Je weiter ich an die EU heranrücke, umso gefährlicher wird es für mich." Das wirkt wie eine doppelte Bremse – zusätzlich zu jener aus Brüssel kommt noch die der lokalen etablierten Politik.
Wiener Zeitung: Welche Zukunft sehen Sie für Bosnien-Herzegowina?
Petritsch: Bosnien ist sicherlich das schwächste Glied in der Kette der Staaten am Westbalkan. Bosnien ist in gewisser Weise ein Jugoslawien im Kleinen – mit allen negativ besetzten Attributen wie ethnischer Differenzierung oder nationalistischer Politik. Da fehlt vieles von dem, was einen modernen europäischen Staat ausmacht. Bosnien wird von nationalistischen Politikern in Geiselhaft gehalten und wir Europäer schauen zu, ohne etwas zu ändern. 17 Jahre nach dem Ende des Krieges sind dort immer noch internationale Strukturen der unmittelbaren Nachkriegszeit aufrecht. Schon 2002, bei der Übergabe des "Office of the High Representative" an meinen britischen Nachfolger Lord Ashdown, habe ich zu ihm gesagt: "Du musst der letzte Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina sein." Ich wollte, dass die Assistenz in europäische Hände übergeht und im Sinne eines Membership-Building gleichzeitig die EU-Vorgaben erledigt werden. Es geht schließlich nicht darum, zunächst einen Staat Bosnien-Herzegowina aufzubauen und diesen erst danach für die EU zu qualifizieren, sondern alle Maßnahmen sollten im Hinblick auf den Acquis erfolgen. Dabei können uns aber nicht die USA, Türkei oder Russland helfen. Das sollte schon längst exklusiv in europäischen Händen liegen.
<br style="font-style: italic;" /> Wiener Zeitung: Warum ist es dann nicht der Fall?
Petritsch: Weil es wie in allen EU-Fragen unterschiedliche Positionen in Europa gibt und das für die USA ein bequemer Weg ist, sich in einer zutiefst europäischen Frage der Integration eine Stimme in diesem Raum zu erhalten.
Wiener Zeitung: Die USA haben gar kein Interesse an der Änderung des Status quo?
Petritsch: Den USA geht es primär um strategische und sicherheitspolitische Themen, den Menschen dort geht es aber natürlich um wirtschaftliche und soziale Fragen, das müsste die EU unterstützen.
Wiener Zeitung: Auch der einstige Musterschüler Slowenien hat große Probleme. Kroatien wurde soeben auf Ramsch herabgestuft. Woher rühren diese Probleme?
Petritsch: Der Zusammenbruch des jugoslawischen Raumes hat ökonomisch natürlich zum Nachteil aller gereicht. Aus der Zersplitterung muss der Weg in eine Europäische Union gefunden werden, die sich in den 1990er Jahren sehr tief integriert hat. Das bringt sehr spezifische Probleme mit sich. Slowenien konnte sich zwar rasch aus dem Jugoslawien-Konflikt herauslösen, dabei wurde aber vieles, was in Übergangsgesellschaften notwendig ist, nicht durchgeführt. Jetzt passiert so etwas wie eine nachholende Transition - im Bereich der Eliten, wo es große Kontinuität gab, in der Wirtschaft, wo die Neuaufteilung der Aufgaben zwischen Staat und privat nicht funktioniert hatte. Bis heute gibt es einen sehr starken, aber verknöcherten staatlichen Sektor. Viele nicht aufgearbeitete Themen brechen in der Wirtschaftskrise auf.
Wiener Zeitung: Die EU verändert sich selbst sehr stark – und muss das auch: Die Krise verdeutlicht die Dringlichkeit. Bei den Bürgern und Regierungschefs scheint dieses Bewusstsein noch wenig verankert. Da werden eher die roten Linien für eine weitere Integration abgesteckt: Bis hierher und nicht weiter. Wie geht das zusammen?
Petritsch: Aus der Vogelperspektive betrachtet hat die EU einen Punkt erreicht, wo sie zu weit ist, um sich ohne große Probleme aufzulösen, aber noch nicht so weit, dass die Gefahr eines Zerfalls gebannt wäre. Deshalb muss man den Menschen eine Vorstellung davon, was am Ende sein soll, zumuten. Genau wissen wir es nicht, aber so etwas wie Vereinigte Staaten von Europa wird es wohl sein müssen. Unter dieser Überschrift geht es um Fragen wie: Was sind die europäischen Aufgaben? Was die nationalen, was die lokalen? Unsere westeuropäische Erfahrung beruht auf dem Sozialstaatsmodell. Europa macht in Wirklichkeit die Kombination von demokratischen Freiheiten mit ökonomischen und sozialen Sicherheiten aus. Das wird durch die Krise und demographische Entwicklungen in Frage gestellt. Diese Verunsicherung treibt die Menschen von Europa weg – sie sehen die Schuld bei der EU. Da muss etwas getan werden. In den Köpfen der Eliten muss die Vorstellung reifen, dass die Vereinigten Staaten von Europa nicht wie die USA sein können. Diese Vereinigung ist deshalb europäisch zu gestalten – sie muss von den Wurzeln der europäischen Erfolgsgeschichte nach 1945 definiert werden: mit einer wichtigen sozialen Säule, mit Sicherheit, einer starken nicht-militärischen Komponente. Die neoliberalen Jahrzehnte haben viel in Frage gestellt, durch das Scheitern dieser Doktrin ergibt sich auch eine neue Chance. Jetzt muss das Sozialstaatsmodell für das 21. Jahrhundert neu gedacht werden, wobei die Demographie, die Globalisierung, die Konkurrenz der großen Schwellenländer wie China berücksichtigt werden müssen.
Wiener Zeitung: In Sonntagsreden sind sich Politiker einig, dass es mehr Europa braucht. Wenn ganz konkret ein Budget beschlossen werden muss, gibt es aber ein Sparbudget, das mehr Europa gar nicht zulässt. Letztlich müssten für Vereinigte Staaten von Europa die Regierungschefs ihre Selbstentmachtung beschließen. Ist das realistisch?
Petritsch: Das ist der Kern. Es werden immer noch politische Entscheidungen auf europäischer Ebene von jenen getroffen, die national gewählt sind. Das ist für eine demokratische Legitimation auch notwendig. Aber in Krisensituationen ist dann das nationale Hemd immer noch näher als das europäische Sakko. Jetzt ist der nächste Integrationsschritt zu mehr Europa fällig. Wobei, das wird oft missverstanden: Es geht bei der Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene nicht um die Quantität, sondern um eine neue Qualität: Das wird uns gerade bei der Aufsicht im Bankenbereich vorgemacht oder beim Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM. Ausgelöst von der Krise schafft man diese Schritte – jetzt geht es darum, europaweite Regeln und Absicherungen zu schaffen, etwa auch im Steuerbereich. Das sind wesentliche Bausteine einer politischen Union.
Wiener Zeitung: Der EU eilt der falsche Ruf voraus, ein bürokratisches Ungetüm zu sein, dabei ist das Budget vergleichsweise schlank. Völlig europäisch sind praktisch nur die Agrarhilfen– was aus der Vogelperspektive betrachtet eher skurril ist. Welche weiteren Bereiche sollten vergemeinschaftet werden – Sie haben Steuern genannt?
Petritsch: Es dürfen nicht neue nationale Steuern dazu kommen, sondern es braucht neue europäische Steuermittel – etwa die Finanztransaktionssteuer -, um die EU aus der Geiselhaft nationaler Interessen zu befreien – im Interesse der Nationen selbst. Einen umfassenden Finanzausgleich wie bei uns zwischen Bund und Ländern halte ich hingegen nicht für zukunftsfähig. Man sollte sich überlegen, was hat sich supranational bewährt, was könnte auf nationale oder lokale Ebene zurückgeführt werden? Der Begriff der Subsidiarität entstammt eigentlich der katholischen Soziallehre und klingt sehr abstrakt, aber ich bin zutiefst überzeugt, dass man ein dialektisches Moment im Integrationsprozess braucht, sodass es nicht immer nur in eine Richtung geht, sondern auch eine lokale Verortung, eine Rückführung zu den Bürgern, möglich ist.
Wiener Zeitung: Das klingt gar nicht so weit entfernt von Premier David Cameron, der Kompetenzen von der EU nach Großbritannien zurückholen wird. Das wird aber als gefährlicher Spaltungsprozess gesehen, der zum Europa der zwei Ebenen führt…
Petritsch: Deshalb hab ich zuvor von der Vision der Vereinigten Staaten von Europa gesprochen. Nur wenn es den Konsens über diese Finalität gibt, kann man solche Diskussionen führen. Cameron muss man vorhalten, dass er versteckt hinter seiner Vorstellung, wonach es nur einen riesengroßen gemeinsamen Markt geben sollte, eine Umgestaltung durchführen möchte. So eine Neuausrichtung ist nur möglich, wenn das Ziel feststeht. Ich zögere dabei, all diese Begriffe wie Bundesstaat oder Föderation zu verwenden, weil hier etwas völlig Neues, sozusagen sui generis, entstehen soll. Darin liegt die Schwierigkeit.
Wiener Zeitung: Wenn Sie den Steuerbereich erwähnen, dann haben wir nur eine EU-11, die sich auf eine Finanztransaktionssteuer einigen konnte. Zerfleddern als Konsequenz der Integration: Ist das denn begrüßenswert?
Petritsch: Das ist sicher eine Schwierigkeit, aber in der Praxis der europäischen Politik offensichtlich unvermeidbar. Jene Ideen, die in die richtige Richtung weisen, werden sich letztlich durchsetzen – ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten muss die Politik meistern. Für das Jahrhundertprojekt der Integration muss man mehrere Bälle gleichzeitig jonglieren können. Schließlich sind wir auf die Heterogenität Europas auch stolz.
Wiener Zeitung: Sind Sie eigentlich zufrieden mit Österreichs europäischer Rolle?
Petritsch: Ich bin froh, dass der jetzige Bundeskanzler doch relativ rasch erkannt hat, dass wir Teil Europas sind und nicht nach Europa auf ein Gastspiel fahren. Ich bin sehr glücklich, dass es einen sehr breiten Konsens gibt. Wünschen würde ich mir, dass man noch engagierter informiert, diskutiert und argumentiert, um die Idee Europas näher an die Menschen heranzubringen. Wenn es einen Populismus geben sollte, dann nur einen Europa-Populismus. Wie wir uns positionieren ist in Ordnung, vielleicht könnte man noch für einzelne Bereiche die Koalition mit zivilgesellschaftlich Gleichgesinnten verstärken.
Wiener Zeitung: Sie haben die neoliberale Doktrin erwähnt. Gerade die OECD hat den Ruf, solche Empfehlungen abzugeben. Ist diese Kritik berechtigt?
Petritsch: Die Kritik ist gerechtfertigt, es hat aber seit dem Ausbruch der Krise Veränderungen gegeben. Die OECD hat erstmals einen Generalsekretär aus dem globalen Süden, aus Mexiko (Angel Gurría, Anm.), dadurch ist die Perspektive nicht mehr die klassisch-westliche. Die OECD-Arbeitsmethoden sind stark empirisch-statistisch untermauert. Die Trends sprechen eine eindeutige Sprache, dass eine fundamentale Veränderung im makroökonomischen Bereich dringend nötig ist. Das findet auch statt - verspätet, aber doch. Österreich hat sehr früh zu jenen Mitgliedstaaten gehört, die die Frage aufgeworfen haben: Sind wir als OECD Teil der Lösung oder Teil des Problems? Wir sind jetzt in einem sehr umfassenden Prozess der Analyse der eigenen Methoden und Ziele.
Wiener Zeitung: Die OECD gibt seit vielen Jahren Empfehlungen heraus, wie Staaten mit dem Abbau von Hürden das Geschäftemachen erleichtern sollen. Wie glaubwürdig ist sie dann als Ratgeber für eine Re-Regulierung, etwa der Finanzmärkte?
Petritsch: Die OECD ist mit anderen Organisationen wie der UN-Arbeitsorganisaion ILO in engem Kontakt und auch bei den G20 als wichtiger Ezzes-Geber dabei. Nehmen Sie nur die Frage, ob das Bruttonationalprodukt der einzige Maßstab für Wachstum sein sollte: Das wird mit der Initiative zur "Messung von Wohlbefinden" oder mit "Green Growth" hinterfragt. Die IT-Revolution wird kritisch durchleuchtet, ob es sich dabei bloß um Wachstum ohne Jobs handelt. Die OECD konnte sich mit der Studie über Ungleichheit profilieren – nicht als moralischer Imperativ, sondern als ökonomisches Argument: Große Ungleichheit führt zu geringerem Wachstum und zu weiteren gesellschaftlichen Problemen. Auch die Warenströme im Zeitalter der Globalisierung werden viel genauer analysiert. Dennoch: der Einfluss neoliberaler Modelle ist sicher noch sehr stark, weil die beharrenden Kräfte bis hin zum eigenen Expertenpool eine Rolle spielen. Aber vieles ist in Bewegung, um dem Tanker OECD eine etwas andere Richtung zu geben.
Wiener Zeitung: Fallen die OECD-Ratschläge in Österreich auf fruchtbaren Boden?
Petritsch: Man kann die OECD-Ratschläge ungestraft ignorieren. Man kann sie aber auch konstruktiv aufnehmen und kritisch reflektieren. Die österreichische Politik kann sehr viel profitieren, wenn sie die Vorschläge und das Know-how intelligent nützt. Die OECD stellt Analysen, makroökonomische Modelle und konkrete Vorschläge zur Verfügung, die eine moderne Politik zweifellos benötigt.
Wiener Zeitung: Eine zentrale Rolle hat die OECD im Kampf gegen Steueroasen inne. Da hat man sich sehr rasch mit ersten Erfolgen zufrieden gegeben. Die "Schwarze Liste" ist verschwunden, geändert hat sich wenig…
Petritsch: Als global wirkende Organisation ist die OECD oft auf den kleinsten gemeinsamen Nenner angewiesen und steht natürlich sehr unter dem Interessendruck der größeren Mitglieder. Deshalb ist der Druck auf kleinere Staaten, etwa im Bereich Bankgeheimnis, relativ größer. Da gibt es ein gerütteltes Maß an Doppelstandards, das ist aber überall so. Die EU-Forderung eines automatischen Informationsaustausches geht übrigens wesentlich weiter als das, was die OECD verlangt. Und auch die USA fordern einen umfassenden Datenaustausch ("Facta") - dieser Zug fährt stärker in Richtung mehr Transparenz, als uns momentan lieb ist.
Wiener Zeitung: Ihre persönliche Meinung: Braucht es das Bankgeheimnis in Österreich noch?
Petritsch: Nein. Man muss dabei unterscheiden zwischen dem Bankgeheimnis für den Österreicher oder den Nicht-Österreicher. Die zentrale Frage ist: Bekommt der jeweilige Staat seinen fairen Abgaben-Anteil oder nicht? Wir müssten jedes Interesse haben, dass dem so ist. Eine offene und transparente Steuerpolitik nützt Österreich mehr, als sie uns schadet. Die Schweizer oder Luxemburger haben wesentlich größere Probleme damit. Für uns ist das Bankgeheimnis eher eine lieb gewordene Tradition, rein ökonomisch ist die Bedeutung gering.
Wolfgang Petritsch,1947 in Klagenfurt geboren, ist seit März 2008 Ständiger Vertreter Österreichs bei der Industriestaatenorganisation OECD in Paris. Davor war er Botschafter bei der UNO und WTO in Genf. Bei den Friedensverhandlungen am Westbalkan hat Petritsch eine zentrale Rolle gespielt: Er war erst Botschafter in Jugoslawien, wurde dann EU-Sonderbeauftragter für den Kosovo und leitete 1999 als EU-Chefverhandler die Friedensgespräche in Rambouillet und Paris. Anschließend war er bis 2002 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. Der einstige Sekretär und Kabinettschef von Kanzler Bruno Kreisky hat zahlreiche Bücher verfasst.