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Die Wurzeln des Abendlands

Von Adrian Lobe

Reflexionen
Europas Säulen wurzeln in christlichen Werten.
© Foto: Jeremy Lightfoot/Robert Harding World Imagery/Corbis

Im Schatten von Staatsverschuldung, Euro-Krise und nationalen Populismen schwelt in Europa ein tiefgreifender Konflikt: Religion versus Säkularität. Europa sollte sich zu seinen religiösen Fundamenten bekennen. Ein Plädoyer.


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Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) werden derzeit von einer beispiellosen Klagewelle überrollt, die die Religion und Säkularität zum Gegenstand hat. Die Sachverhalte sind grundverschieden: Darf eine Fluggesellschaft einer Flugbegleiterin das Tragen eines Kruzifixes untersagen? Können britische Standesbeamte unter Berufung auf die Religions- und Glaubensfreiheit von der Pflicht zur Trauung gleichgeschlechtlicher Paare entbunden werden?

Es geht hier zunächst im rechtstechnischen Sinne, ganz profan, um eine Güterabwägung zwischen positiver bzw. negativer Religionsfreiheit und staatlicher Neutralitätspflicht. Das medial großes Aufsehen erregende Urteil des Europäischen Gerichtshofs über die Präsenz des Kruzifixes in Klassenzimmern berührt denselben Problemkreis. Doch hinter der Judikatur geht es um etwas viel Grundsätzlicheres: Wie positioniert sich Europa, das sich gerne als Wertegemeinschaft begreift, zur Religion?

Im Jahre 1463 veröffentlichte der böhmische König Georg von Podiebrad seine Abhandlung über einen Frieden für die gesamte Christenheit (Tractatus pacis toti christianitati fiendae). Die Idee war es, die Christen des Kontinents in einer Friedensgemeinschaft zu einen. Der Föderationsplan, der die Einrichtung eines Parlaments, Gerichtshofs und einer gemeinsamen Währung vorsah, gilt als eine der ersten ideengeschichtlichen Begründungen Europas. Man staunt heute über die Aktualität des Dokuments.

Glaubensgemeinschaft

Auf Grundlage des katholischen Glaubens wollte der "Ketzerkönig" Podiebrad - er selbst konvertierte vom Katholizismus zur hussitischen Konfession - eine Union der "Brüderlichkeit und Barmherzigkeit" festzurren. Diese Föderation war als Glaubensgemeinschaft und nicht als Bürgerunion konzipiert. Und sie war gegen einen Gegner gerichtet: den Prinzen der Türkei, den "erbittertsten Feind des Christentums". In dem Friedenstraktat spiegelt sich ein Freund-Feind-Antagonismus wider; er weckt Rachegelüste gegen den Islam. Der Textentwurf, der Eintracht stiften sollte, säte Zwietracht. 1463 hatte Papst Pius II. den Osmanen den Krieg erklärt; das Abendland wurde rhetorisch wie militärisch gegen den Orient in Stellung gebracht. Der Humanismus, der in dieser Periode der Geschichte aufblühte, konnte die religiösen Eiferer nicht bändigen. Auf die Kreuzzüge folgten die Inquisition, die Verfolgung und Vertreibung von Häretikern. Das liberale Momentum war verflogen.

Der religiöse Fanatismus kulminierte im 30-jährigen Krieg, der den Kontinent zur Schlachtbank machte. Die Reformation hatte einen Keil in die Christenheit getrieben; Protestanten und Katholiken standen einander unversöhnlich gegenüber. Wie sollte aus der Religion eine friedsame Gemeinschaft erwachsen? Hatte der Absolutheitsanspruch nicht einen gewaltigen Furor entfacht? So paradox es klingen mag: das frühe Christentum zeitigte einen sozialisierenden Effekt.

Der Dichter Novalis brachte dies, wenngleich romantisch verklärend, 1799 in seiner Schrift "Die Christenheit oder Europa" zum Ausdruck: "Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. - Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte."

Novalis betont den Einheitsgedanken - Europa als "christliches Land". Das Christentum bildete die politisch-kulturelle Klammer des frühen Europa. Nicht die Religion, die Kleinstaaterei und Ranküne der Herrscher entfesselten den Kriegswahn, der den Kontinent im 17./18. Jahrhundert an den Rand des Abgrunds trieb. Novalis prophezeite: "Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden." Und: "Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installieren."

Es mutet wie eine grausame Ironie der Geschichte an, dass es der Millionen Opfer zweier Weltkriege bedurfte, um Europa institutionell zu verankern. Die Europäische Union wurde als Friedensprojekt gegründet. Freilich sieht sich die EU in ihrem Selbstverständnis nicht in unmittelbarer Traditionslinie der Religion und lehnte einen Gottesbezug in den Verträgen stets ab. Doch verfolgt sie als Zivilmacht eine ähnliche Mission wie das Christentum.

Moderne Scholastik

Als im Mittelalter die Wiege Europas bereitet wurde, war das Christentum gewissermaßen Geburtshelfer. Die Kirche überlieferte das Wissen der Antike und gab die Anleitung zu vernunftgeleitetem, praktischem Handeln. Die Scholastik legte den Grundstein für die erste transnationale Institution: die Universität. Die Lehrstätten in Bologna, Paris und Salamanca standen unter dem Schutz von Kaiser und Papst und waren so dem Zugriff lokaler Mächte entzogen. Sie waren von Beginn an europäisch. Große Denker wie Thomas von Aquin besuchten die Einrichtungen und brachten je ein Buch für die heimischen Bibliotheken mit. So entstand ein kollektiver Lernprozess, der die Völker verband. Die Scholastik war der Kristallisationspunkt des modernen europäischen Denkens. Eine Aufklärung geschah nur dort, wo es eine Scholastik gegeben hatte. Dies war weder im Islam noch im orthodoxen Christentum der Fall. Russland leidet bis heute darunter und ist wohl auch deshalb anfällig für eine verknöcherte Marxismus-Orthodoxie, die im freien Europa niemals Fuß fasste.

An diesen Befund knüpft die Frage an, ob die Menschenrechte, die man ja gemeinhin als Errungenschaft des "Westens" betrachtet, auf religiöse oder säkulare Ursprünge zurückzuführen sind. Nach weitverbreiteter Lesart sind sie eine Frucht der Französischen Revolution: Die Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 atme den Geist der Aufklärung, und dieser Geist sei antiklerikal, wenn nicht offen religionsfeindlich gewesen. Mithin manifestiere sich in den Menschenrechten eine Ablehnung der Verbindung Staat-Kirche oder des Christentums als Ganzem. Diese Ansicht geht jedoch fehl.

Der Calvinist Roger Williams proklamierte schon 1634 in Providence (Rhode Island) eine allgemeine Religionsfreiheit. Der Calvinismus ist bekanntlich eine theologische Strömung. Und selbst die Französische Revolution fand in einem religiös-rituellen Rahmen statt. Keine Jakobinerversammlung wurde ohne die Anrufung eines "Te Deums" abgehalten. Die Präambel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte spricht von "natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechten".

Diese Auffassung geht auf naturrechtliches Denken zurück, wonach jeder Mensch von Natur aus unveräußerliche Rechte besitzt. Worauf dieses Naturrecht beruht, ist umstritten: auf göttlichen Gesetzen (Logos), auf der Vernunft, auf der Natur als solcher. Die Wurzeln der Menschenrechte liegen an einer Kreuzung von Politik, Ethik und Religion. Der deutsche Staatsrechtler Georg Jellinek schrieb 1895: "Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs."

Dieses Zitat wird gerne als Beleg für den religiösen Gehalt der Menschenrechte herangezogen. Doch Jellinek war Rechtspositivist. Er schenkte der Idee vorstaatlicher Rechte keinen Glauben. Das Recht war in seinen Augen "nichts anderes als das ethische Minimum". Bei ihm kommt die religiöse Konnotation der Menschenrechte durch die Hintertür. Indem der Staat die Normen positiv-rechtlich setzt, verschreibt er sich dem religiösen Erbe, macht sich gleichsam zu dessen Vollstrecker. Dies lässt sich mit Verweis auf die Formulierung "heilige Rechte" untermauern, wie sie in der Präambel der Menschenrechtserklärung 1789 proklamiert wurden. Demnach stellen die Menschenrechte ein System dar, das etwas Übermenschliches, Schöpferisches, Transzendentes verkörpert.

Der französische Soziologe Émile Durkheim interpretierte die Menschenrechte als Ergebnis eines Sakralisierungsprozesses der Individuen. Der Mensch wird heilig, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Die Menschenwürde ist eine urchristliche Vorstellung. Die Bibel nennt die Menschenwürde nicht explizit, die Genesis erzählt aber, wie der Mensch zum Stellvertreter Gottes auf Erden wird. Aus der Gottesebenbildlichkeit folgt: Vor Gott sind alle Menschen gleich. Mit der Renaissance geht der Bezugspunkt des Egalitätsprinzips von Gott auf das Gesetz über: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heißt es in der Erklärung der Menschenrechte. Der Rechtsstaat hat den Gleichheitssatz kodifiziert.

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung fußt wesentlich auf christlichen Fundamenten. Das katholische Kirchenrecht etwa diente dem Verfassungsstaat als Vorbild. Sämtliche prozessuale Grundsätze wie die Schriftlichkeit des Verfahrens, das strafrechtliche Offizialprinzip, das Mehrheitsprinzip sowie die justizielle Garantie des Rückwirkungsverbots sind aus dem kanonischen Recht abgeleitet. Nicht umsonst hat Max Weber dieses als "Führer auf dem Wege zur Rationalität" bezeichnet.

"Corpus Christianum"

Die Papstkirche mit ihrer effektiven Rechtssetzung und straffen Ämterhierarchie markiert den Urtyp modernder Staatlichkeit. Beide Elemente, Politik und Religion, haben zusammengewirkt. Ernst Troeltsch spricht, bezogen auf das Mittelalter, von einer christlichen Einheitskultur, die das Imperium und das Sacerdotium als zwei Organe am gleichen Körper verstand: dem Corpus Christianum.

Die Organe hatten klare Zuständigkeiten und Kompetenzen. Der Staat war der Kirche und damit dem Heil unterworfen. Mit der Neuzeit änderte sich dieses Rollenverhältnis diametral. Der Staat hat die Kirche eingehegt, in die organisatorische Form des Staatskirchenrechts gegossen. Der Staat dominiert die Kirche. Sobald aber die Religion privatisiert und die Wahrheitsfrage der öffentlichen Gewalt anheim gestellt wird, gibt es diese klare Zuordnung nicht mehr. Der Streit um das Kruzifix in Klassenzimmern ist das evidente Indiz dieser Unklarheit.

Der Laizismus ist insofern eine Scheinlösung, als er die Frage nach der Religion nicht beantwortet, sondern aus dem Diskurs verbannt. Die "konfessionelle Neutralität", auf die die europäischen Richter stets verweisen, drückt sich um die Problematik herum. Wohl hat der säkulare Staat sich einer weltanschauungspolitischen Neutralität verpflichtet. Das heißt aber nicht, dass er seine religiöse Herkunft verbergen muss. Im Gegenteil: Er muss Flagge zeigen. Gewiss, am Kruzifix hängt nicht die Moral des ganzen Abendlandes. Es symbolisiert aber über die religiöse Bedeutung hinaus die Grundwerte und Prinzipien der westlichen Demokratie und Zivilisation. Die europäischen Wegmarken Scholastik, Humanismus, Aufklärung wurzeln allesamt in christlichen Werten. Europa sollte sich daher zu seinen religiösen Fundamenten bekennen.

Adrian Lobe, geb. 1988, studiert Politik- und Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg (derzeit an der Sciences Po, Paris); schreibt für Zeitungen in Österreich, Deutschland u. der Schweiz.