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Mitunter ist es notwendig, sich selbst zu versichern, was für eine ungeheure Errungenschaft der liberale Rechtsstaat darstellt. Und unweigerlich fragt man sich, ob wir noch einmal in der Lage wären, so emotionslos auch mit schwersten Verbrechen umzugehen. Oder ob nicht die Wut über Untaten die Vernunft hinwegfegen würde.
Grundsätze, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Verbot rechtswidrig erlangter Informationen, das Prinzip der Unschuldsvermutung (etwas, das hierzulande fast nur noch mit ironischem Unterton vermerkt wird), das Recht auf eine professionelle Verteidigung und - dies vor allem - die Unabhängigkeit der Gerichte: Der Druck auf diese rechtsstaatlichen Errungenschaften hat in den vergangenen Jahren unübersehbar zugenommen, sei es im Umgang mit Terroristen wie Al-Kaida, mit Massenmörder wie Anders Breivik oder mit Sexualverbrechern wie aktuell in Indien. Und es geht nicht nur um Länder fern von Österreich, auch hierzulande müssen solche Selbstverständlichkeiten immer wieder verteidigt werden.
Natürlich müssen wir unser Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, von Strafe und Verantwortung ständig überprüfen und gegebenenfalls neu ausrichten oder anpassen. In Gesetz gegossene gesellschaftliche Übereinkünfte hinken notwendigerweise der sozialen Realität hinterher. Das gilt vor allem für den Umgang mit Missbrauch und Sexualität. Mitunter überkommt einen Fassungslosigkeit, wenn man erkennt, wie bis vor kurzem noch unter dem Deckmantel sexueller Befreiung die Rechte von Unmündigen verletzt wurden. Hier stellt sich auch die Frage, warum Vermögensdelikte immer noch härter bestraft werden als Körperverletzung.
Justizpolitik ist beinharte Gesellschaftspolitik. Das Problem ist nur, dass die Emotionen, die dabei zwangsläufig hochkochen, dazu tendieren, am Fundament des Rechtsstaats zu nagen. Es ist nicht leicht, im Angesicht drohender Terrorattentate auf Informationen zu verzichten, die durch Folter erpresst worden sind; oder auf einen fairen Prozess für Vergewaltiger, wenn der Volkszorn den Strang fordert; oder dem Grundsatz zu folgen, dass nicht das Opfer über die Strafe entscheidet, wie im Fall von Fußfesseln für Sexualstraftäter. Auch darüber kann, ja muss man diskutieren. Aber nicht im Windschatten einer erregten Öffentlichkeit. Auch das gehört zu den Prinzipien eines liberalen Rechtsstaats.