Leder und Schuhe werden in Indien für Hungerlöhne unter teils unmenschlichen Bedingungen produziert.
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Chennai. Ein schneller, beherzter Schnitt, ein röchelndes, gurgelndes Geräusch, ein letztes Zucken und schon hängt der Metzger die Ziege an den Beinen auf und zieht ihr langsam das Fell über die Ohren. Es ist 6 Früh, das blutige Tagwerk in "K. J. Babujis Hammel-Verkaufsstand" in Ambur ist beinahe vollbracht. Ambur liegt im Südosten des indischen Subkontinents, die 162.000-Einwohner Stadt schmückt sich stolz mit dem Titel "Die Lederstadt Südindiens", hier befinden sich einige der größten Gerbereien, Leder verarbeitenden Betriebe und Schuhfabriken des Landes.
Über ein Dutzend Ziegen hat Herr Babuji diesen Morgen ins Jenseits befördert, das Fleisch ist schon zum größten Teil an Fleischhändler und Stammkunden verkauft, auf die Felle wartet die Gerberei. 1,50 Euro bekommt K. J. Babuji für die Ziegenhaut, für ihn ist die Haut nichts weiter als ein Abfallprodukt der Fleischproduktion. Aber hier in Ambur ist Tierhaut die Basis der lokalen Wirtschaft. Aus Ziegenhaut wird in der Gerberei Chevreauleder, das zu den edelsten und feinsten Schuhoberledersorten zählt.
Je nach Schnitt kann man die Teile für drei bis sechs paar Schuhe aus einer Ziegenhaut schneiden, nicht selten werden solche Schuhe dann in Europa um 150 Euro pro Paar an die Kunden gebracht.
Gegerbt werden die Häute entweder in modernen Anlagen in Ambur oder in kleinen, althergebrachten Hausgerbereien in der Stadt oder auch im drei Autostunden von hier gelegenen Chrompet, dem Gerbereiviertel von Chennai, das jüngst von den Überschwemmungen in Tamil Nadu in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Der Name des Viertels stammt vom Chrom-Gerbverfahren, mit dem 95 Prozent des weltweit hergestellten Leders gegerbt werden.
Der Gerbprozess ist schneller und materialsparender und damit billiger als die traditionellen Verfahren mit natürlichen Gerbstoffen. Wird das chemische Verfahren allerdings unsachgemäß angewandt, kommt es zur Bildung von hochgiftigen und krebserregenden Chrom-(VI)-Verbindungen. Dabei können schon 0,6 Gramm der Verbindung Chrom-(VI)-Oxid tödlich sein.
Farbenspiele und Chromchemikalien
In einer Fabrikhalle in der Marudhur Gopalan Ramachandran Straße hängen die buntesten Farbenspiele an den Wänden: gelbe, blaue, orange, violette, pinke Bänder und die in den unterschiedlichsten Couleurs leuchtenden Bilder von tamilischen Hindu-Heiligen wie Murugan, Ayyappan oder Meenakshi. In den Ecken liegen die Stapel von "Wet Blue"-Leder, also noch feuchtem und bereits chromgegerbten Leder. Es ist drückend heiß, stickig und es riecht nach Lösungsmitteln, feuchtem Leder und Farbe. Gerbchemikalien und Lederfarbe steht in Kanistern, Fässern und Blechdosen am Boden, die Arbeiter mischen die bunten Flüssigkeiten recht sorglos und ohne Arbeitshandschuhe, Arbeitskleidung oder Mundschutz zu tragen, in Plastikbechern zusammen und gießen die Mischung in eine über den Walzen befindliche Wanne, von der die Chemikalien dann in die Apparatur tropfen. Das gegerbte und gefärbte Leder wird danach getrocknet und in einen vor der Fabrik parkenden Mini-Lkw verladen. Im nächsten Schritt werden die Lederteile zugeschnitten und an Fabriken oder Heimarbeiterinnen geliefert, die für lokale Schuhfirmen arbeiten.
Für die Näherinnen hat die Heimarbeit zwar den Vorteil familienfreundlicher flexibler Arbeitszeiten, im Gegensatz zur Arbeit in den Fabriken bekommen die schuhverarbeitenden Heimarbeiterinnen aber kein Fixgehalt, sondern werden pro Paar Schuhe, das sie zusammennähen, bezahlt, in der Regel meist zwischen 7 und 20 Cent (5 bis 15 indische Rupien), je nach Arbeitsaufwand. Bei einer durchschnittlichen Tagesproduktionsrate von zehn Paar Schuhen ergibt das ein Tageseinkommen von 72 Cent bis 2 Euro (50 bis 150 indische Rupien), bei 20 Paar Schuhen zwischen 1,5 bis 4 Euro (100 bis 300 Rupien). Im Vergleich dazu: Ein Kilogramm Reis kostet am lokalen Markt je nach Qualität zwischen 38 und 65 Cent (26 Rupien bis 45 Rupien). Die Näherinnen sind von den Aufträgen der Firmen und Mittelsmänner abhängig, die morgens die zu nähenden Teile bringen und abends die fertig produzierten Schuhoberteile abholen. Wenn es weniger Aufträge gibt, dann verlieren viele der Frauen von einem Tag auf den anderen ihre Chance auf ein Einkommen.
Naga Bai näht zuhause Schuhe zusammen
Naga Bai, 65 Jahre, ist einen von den Heimarbeiterinnen in der "Stadt des Leders" in Ambur. Sie hat ihr Leben lang Schuhe zusammengenäht, nach ihrer Hochzeit hat sie damit begonnen. Anfangs arbeitete sie in einer Schuhfabrik, wo sie die wichtigsten Fertigkeiten lernte. Nachdem Naga Bai ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte, arbeitete sie weiter - diesmal als Heimarbeiterin. Für ein Paar Schuhe bekam sie früher 7 Cent (5 Rupien). Meistens schaffte sie 10 Paar Schuhe und kam auf ein Tageseinkommen von 72 Cent (50 Rupien). Als dann die Kinder mithalfen, konnte sie pro Tag 20 Paar Schuhe fertigstellen und somit 1,5 Euro (100 Rupien) verdienen. Viel mehr als Reis und Linsen kam in dieser Zeit so gut wie nie auf den Tisch. Früher sei die Arbeit einfacher gewesen, planbarer. Heute muss oft unter größtem Druck und in kürzerster Zeit eine große Anzahl von Schuhen fertiggenäht werden, während zu anderen Zeiten Flaute herrscht.
Naga Bai klagt über die steigenden Lebenshaltungskosten, mit denen ihr Verdienst kaum Schritt hält. Sie bekommt heute 14 Cent (10 Rupien) pro Paar Schuhe und kann am Tag 10 Paare fertigstellen. Das ergibt ein Tageseinkommen von 1,5 Euro (100 Rupien). Um halbwegs über die Runden zu können, würde sie aber 145 Euro (10.000 Rupien) pro Monat benötigen und 215 Euro (15.000 Rupien) um zumindest ein menschenwürdiges Leben führen zu können.
Die Entwicklungsagentur Südwind hat die Wertschöpfungskette eines in Indonesien gefertigten Schuhs, der in Österreich um 120 Euro über den Ladentisch geht, durchleuchtet. Das Ergebnis: Der größte Teil der 120 Euro geht an den Einzelhandel (41 Euro), Distribution, Transport und Zölle kosten 9 Euro, an den Markenkonzern gehen 26 Euro, der Produzent bekommt 20 Euro (2,5 Euro machen die Lohnkosten aus, 10 Euro Rohstoffe, 3,5 Euro sonstige Produktionskosten, somit bleiben dem Produzenten 4 Euro Gewinn pro Schuh). Die Mehrwertsteuer macht 24 Euro aus.
Das wirft die Frage auf: Wie viel vom Wohlstand in den entwickelten Industrienationen fußt eigentlich auf der Ausbeutung jener, die bei der Geburtslotterie nicht das große Los gezogen haben?
Denn nur etwas über zwei Prozent des Endpreises des Schuhs fließen in die Löhne der Arbeiterinnen (das Gros der Beschäftigten in der Schuhindustrie sind Frauen), während ein Viertel beim Markenunternehmen und etwa ein Drittel beim Einzelhandel hängenbleiben. "Ein Großteil der Wertschöpfung findet also nicht in den Produktionsländern statt, sondern dort, wo die sog. immateriellen Wertschöpfungsaktivitäten, wie etwa Werbung und Design, vollzogen werden. Die geringste Summe des Endpreises entfällt hingegen auf diejenigen Akteurinnen und Akteure, die die physische Arbeit bewältigen", heißt es in einem Papier der "Clean Clothes"-Kampagne, die sich für faire Löhne in der globalen Bekleidungs- und Schuhindustrie einsetzt. In Österreich werden pro Jahr übrigens rund 50 Millionen Paar Schuhe verlauft, das sind circa sechs Paar Schuhe pro Kopf, die im Schnitt 194,40 Euro kosteten. Frauen gaben durchschnittlich 105 Euro aus, Männer 57 Euro und für Kinder wurden Schuhe im Wert von 33 Euro gekauft.
Die Schuhe, die Mahalakshmi näht, sind für sie unleistbar
Im Hof des Hauses von Naga Bai, näht auch ihre 26-jährige Enkelin Mahalakshmi in Heimarbeit Schuhe zusammen, damit sie sich nebenbei um ihre zwei kleinen Kinder kümmern kann. Mahalakshmi besitzt selbst zehn Paar Schuhe, die meisten davon sind aber billige Sandalen - die Schuhe, die sie selbst produziert, könne sie sich nie und nimmer leisten, sagt Mahalakshmi. Ein Paar dieser Schuhe werde in Europa für 115 Euro (8000 Rupien) verkauft.
Mahalakshmi würde ja lieber in der Fabrik arbeiten, denn dort gäbe es eine Krankenversicherung und einen Sozialfonds, den sie bei Härtefällen in Anspruch nehmen könnte. Aber Mahalakshmi muss Haushalt, Arbeit und Kinder unter einen Hut bringen, und das geht für sie eben nur mit Heimarbeit. Für viele Auftraggeber bringt die Heimarbeit Vorteile: Die Unternehmen können flexibel auf die Auftragslage reagieren und wälzen einen Großteil des unternehmerischen Risikos an die Heimarbeiterinnen ab. Denn wenn es keine Aufträge gibt, bekommen eben auch die Näherinnen kein Geld.
"Die Heimarbeit ist in Indien eigentlich verboten. Dennoch gibt es die Tendenz von Schuhfabriken, Handarbeit zunehmend in den informellen Sektor der Heimarbeit auszulagern. Grund dafür ist - und das hat in Indien System: Was helfen die besten Gesetze, wenn diese nicht implementiert und kontrolliert werden?", klagt der Jurist für Arbeitsrecht, S.S. Vasudevan. Der Jurist steht Heimarbeit aus einem zweiten Grund kritisch gegenüber: Vasudevan sieht darin einen Nährboden für Kinderarbeit. Aufgrund des geringen Einkommens unterstützen Kinder ihre Eltern zuhause bei der Arbeit. "Kinderarbeit ist in Indien illegal und per Gesetz verboten - egal ob sie in Fabriken oder Heimarbeit erfolgt!", sagt er.
Christina Schröder und Regina Webhofer, von der Entwicklungsagentur Südwind sind bei ihren Recherchen in Südindien auf den Fall der heute 19-jährigen Mumtaz gestoßen, die im Alter von 15 Jahren in einer Schuhfabrik, in der Damenschlapfen produziert wurden, für anfangs 30 Euro im Monat gearbeitet hat. "Kinder sollen nicht arbeiten, sondern in die Schule gehen, dachte ich damals. Ich arbeite heute sehr hart, dafür will ich auch bezahlt werden. Ich brauche ein höheres Einkommen, mein Monatslohn von 85 Euro reicht nicht aus", sagt Mumtaz zur "Wiener Zeitung".
Die Arbeit in den Fabriken ist aber immerhin besser geregelt und bringt ein höheres Einkommen als die Heimarbeit. Von europäischen Normen ist man aber freilich weit entfernt: Sechs-Tage-Woche, bei einem Arbeitstag von neun Stunden, alle 20 Tage gibt es das Recht auf einen Urlaubstag, der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 72 Euro - die lokalen Gewerkschaften fordern seit Jahren erfolglos die Anhebung der Monatslöhne auf 145 Euro (10.000 Rupien) und auf 288 Euro für Familienerhalterinnen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter würden oft mit Bussen aus der ganzen Umgebung in die Produktionsstätten gefahren, erläutert M Vijayabaskar vom Madras Institute of Development Studies gegenüber der "Wiener Zeitung" und vermutete eine gezielte Strategie in dieser "geografischen Mobilisierung": "Das erschwert ihnen, sich gewerkschaftlich zu organisieren."
"Die Aussicht auf eine Fair-Trade-Zertifizierung oder Ähnliches könnte helfen, die Arbeitsverhältnisse vor Ort zu verbessern", sagt Thomas Schützeneder, österreichische Schuhhersteller und Importeur. Er sieht die Chance, dass öffentliche Auftraggeber - etwa bei Arbeitsschuhen - "den Takt vorgeben". Schützeneders Partner in Indien, das Schuhunternehmen Habeeb Tanning Company etwa, hätte durchaus Interesse daran, wie Managing Partner A. Waseefur Rahman sagt.
Wären die Konsumenten in den Industrienationen bereit, die Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern etwas mehr am Wohlstand teilhaben zu lassen? Das hätte wohl nur geringfügig höhere Preise für Schuhe, aber vor allem geringere Renditen für die Schuhhersteller, Markenartikler und den Schuhhandel zur Folge. Ein akzeptabler Preis, denn wer möchte schon in den Schuhen indischer Näherinnen stecken?