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Die Zeit arbeitet für Lukaschenko

Von Gerhard Lechner

Politik

Der weißrussische Präsident setzt im Machtkampf in Minsk auf Gewalt und erlaubt auch den Einsatz von Schusswaffen. Seine Gegner versuchen, friedlich dagegenzuhalten - die Proteste könnten sich allerdings bald totlaufen. Eine Analyse.


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Wird in Minsk, ähnlich wie im Jahr 2014 auf dem Maidan in Kiew, bald geschossen? Ausgeschlossen ist es nicht, seitdem am Montag das weißrussische Innenministerium die Polizei ermächtigt hat, "wenn nötig spezielle Ausrüstung und tödliche Waffen" - also Schusswaffen - einzusetzen. Die Sicherheitskräfte, hieß es, würden den Demonstranten, die seit mehr als zwei Monaten gegen Präsident Alexander Lukaschenko und das offensichtlich gefälschte Wahlergebnis von über 80 Prozent protestieren, nicht weichen. Die Oppositionsbewegung, hieß es seitens des Innenministeriums, habe sich radikalisiert - daher habe man die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch gegeben.

Bis jetzt kann freilich von einer Radikalisierung der Demonstranten keine Rede sein. Der Protest in Minsk verlief über Monate hinweg friedlich, während seitens des Staates teils exzessiv Gewalt ausgeübt wurde. Am Montag kam es zu einem Protestzug von Senioren, jener Gruppe, unter denen Lukaschenko wohl auch heute noch einen gewissen Rückhalt genießen dürfte - freilich nicht mehr so viel Rückhalt wie noch vor einigen Jahren: Die Stagnation der letzten zehn Jahre, die besonders auch die kleinstädtische und Landbevölkerung hart getroffen hat, hat die Zahl der Lukaschenko-Fans auch in der Provinz deutlich reduziert. Von den rund 80 Prozent, die sich der Autokrat bei jeder Präsidentenwahl von der ihm ergebenen Wahlkommission bescheinigen lässt, dürfte er weiter denn je entfernt sein.

Wie lange halten Proteste an?

Zurückgehalten haben sich die Sicherheitskräfte jedenfalls auch gegenüber den Senioren nicht: Mit Leuchtpatronen und Tränengas ging die Polizei gegen die Demonstranten vor, es gab Verletzte. Bereits zuvor hatte man bei den jeden Sonntag stattfindenden Protesten Knall- und Blendgranaten eingesetzt und mehr als 700 Demonstranten festgenommen. Das Regime fühlt sich, so scheint es jedenfalls, stark genug, um den monatelangen innenpolitischen Machtkampf mit der Opposition für sich zu entscheiden.

Und es sieht in der Tat so aus, als würde der Langzeit-Präsident die Oberhand behalten. Kurz nach den Wahlen am 9. August war Lukaschenko in ernster Bedrängnis: Hunderttausende Menschen protestierten, Streiks und Demonstrationen im ganzen Land setzten den Autokraten unter Druck, Journalisten von Staatsmedien kündigten, selbst Polizisten der Sonderpolizei Omon zogen im Internet öffentlichkeitswirksam ihre Uniformen aus. Der Präsident wurde, als er vor Arbeitern sprach, ausgepfiffen und zum Rücktritt aufgefordert. Die Versuche Lukaschenkos, mit eigenen Kundgebungen dagegenzuhalten, wirkten nur noch hilflos.

Dennoch kam es zu keinem Umschwung. Der auf Lukaschenko eingeschworene Sicherheitsapparat verhinderte ebenso wie Unterstützung und Rückendeckung aus Moskau den Sturz des Diktators. Mit jedem Tag an der Macht klang die Botschaft des Autokraten glaubwürdiger: Ich bin noch da. Überläufern wird es schlecht ergehen.

Die Opposition steht damit vor einem Dilemma. Natürlich kann man die Demonstrationen fortführen - doch wie lange noch? In Minsk ist es bereits im Oktober empfindlich kalt, die Erfolgsaussichten werden nicht besser, die Ernüchterung wird größer. Irgendwann werden sich die Menschen wieder desillusioniert dem Alltag zuwenden - viele Junge werden, so wie in den letzten Jahren, wohl auch auswandern. Es liegt auch im Interesse Lukaschenkos, dass sich die Proteste totlaufen.

Gewinner Russland

Ob der weißrussische Autokrat, ein echter Heißsporn, dafür die nötige Geduld aufbringt, ist allerdings fraglich. Immer wieder setzt er auf Gewalt, so wie jetzt auch gegen die Senioren. Das könnte, so wie einst auf dem Maidan in Kiew, den Unmut nähren bis zu einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Sollte Lukaschenko tatsächlich Schusswaffen einsetzen lassen, sollte es Tote und damit Märtyrer geben, dürfte es auch Gegengewalt geben. Der Weg in eine Brutalisierung des Konflikts wäre geebnet - und der nächste Krisenherd zwischen Ost und West da.

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Das wäre freilich etwas, das auch nicht im Interesse Russlands liegt - das als großer Gewinner aus der Belarus-Krise aussteigt. Seit dem Ukraine-Krieg 2014 hatte sich Lukaschenko als Vermittler zwischen Kiew und Moskau auch im Westen profiliert. Selbst zu Nachbarstaaten wie dem nationalkonservativ regierten Polen war das Verhältnis entspannt, dafür stiegen die Reibungen mit Russland. Im Vorfeld der Präsidentenwahl wurde gar darüber spekuliert, ob der populäre Gegenkandidat Wiktor Babariko nicht ein Mann des Kremls sei.

Seit Lukaschenko um seinen Sessel fürchten muss, ist alles anders: Die Bindungen zum Westen sind abgebrochen, es gibt diplomatische Konflikte mit den Nachbarstaaten Polen und Litauen. Die EU-Sanktionen wurden reaktiviert, auch Lukaschenko persönlich könnte bald sanktioniert werden. Der Seiltänzer zwischen Ost und West, der sich bisher als Garant der Unabhängigkeit Weißrusslands präsentierte, verfügt über dramatisch weniger Optionen - und kann russische Wünsche nach einer tieferen Integration in einen russisch-weißrussischen Unionsstaat, etwa mittels einer gemeinsamen Währung, nun nicht mehr abweisen.