Die Oppositionelle Tichanowskaja über die Diktatur in Weißrussland, den Ukraine-Krieg und die Kollaboration mit Putin.
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Im Herbst 2020 hatte es so ausgesehen, als wackle der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Denn anscheinend hatte sie die Präsidentenwahl im August 2020 haushoch gewonnen: Swetlana Tichanowskaja. Die offiziellen Ergebnisse gaben freilich dem seit 1996 regierenden Lukaschenko die klare Mehrheit: satte 79 Prozent. Beobachter gehen allerdings davon aus, dass eher Tichanowskajas Ergebnis dem tatsächlichen Ergebnis entsprochen hätte. Tätig sein kann sie nach der Niederschlagung der Proteste in Belarus nur noch aus dem Exil.
Traditionell sind die Beziehungen zwischen der belarussischen Opposition und der Ukraine eng. Der Krieg hat aber Unstimmigkeiten gebracht. Kiew kritisiert, dass es keinen Aufstand gegen Lukaschenkos Schritt gab, Russland den Aufmarsch in Belarus zu erlauben. Im Umfeld Tichanowskajas hoffte man dagegen auf eine Anerkennung der exilierten Parallelregierung - etwas, das Kiew aber nicht tun möchte, um Belarus keinen Vorwand für eine direkte militärische Intervention zu liefern. Am Freitag war Tichanowskaja zu Gast in Österreich und hat Parlamentariern über den Krieg in der Ukraine und die Situation in ihrer Heimat berichtet. Die "Wiener Zeitung" hat sie zum Gespräch getroffen.
"Wiener Zeitung": Fast drei Jahre ist die Wahl in Belarus her. Für wen arbeitet denn die Zeit derzeit?Tichanowskaja: Ich würde diese Frage umformulieren: Gegen wen arbeitet die Zeit?
Okay: Gegen wen arbeitet sie?
Sie arbeitet gegen alle. Sie arbeitet gegen politische Gefangene, für die die Zeit sehr langsam verrinnt in den Gefängnissen. Die Zeit arbeitet gegen die Belarussen, weil die Leute müde und frustriert werden. Wir haben unsere Ziele nicht rasch erreicht und die Leute verlieren die Geduld. Aber die Zeit arbeitet auch gegen das Regime. Das Regime hat verstanden, dass die Menschen nicht aufgegeben haben. Sie waren sicher, dass sie Druck ausüben und Kritiker zum Schweigen bringen können, aber das haben sie nicht geschafft. Und nun glauben sie, dass sie die Menschen aushungern können mit ihrem Unterdrückungsapparat.
Aber wenn Sie sagen, die Zeit arbeitet gegen alle, dann sagen Sie auch, dass die Zeit gegen Sie arbeitet. Tut sie das?
Wenn Menschen ihre Ziele nicht rasch umgesetzt sehen, dann werden sie frustriert. Dann verlieren sie das Ziel vor Augen. Dann verlieren sie den Willen, für ihre Ziele zu kämpfen. Und es ist an uns, die Menschen ständig und ununterbrochen zu motivieren, nicht aufzugeben; ihnen zu sagen, dass sie nicht aufgeben können, weil sie auch die Verantwortung für all jene tragen, die sich geopfert haben, die ihre Freiheit geopfert haben in diesem bisherigen Kampf. Aber die Leute sind nach wie vor da. Sie sind nach wie vor bereit zu kämpfen. Sie haben verstanden, dass das eine historische Periode in unserer Geschichte ist. Aber freilich: Das Regime kreiert laufend neue Herausforderungen.
Es gab, was genau das angeht, einiges an Kritik vor allem aus der Ukraine. Da hätte man sich mehr gewünscht seitens der belarussischen Bevölkerung. Mehr an Aktionen. Wie kommt das bei Ihnen an?
Ich kenne diese Kritik. Ich habe das mehrmals seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine gehört. Und ich verstehe das natürlich: Es geht um die Ukraine, die Städte der Ukraine werden zerstört. Aber diese Kritik ist auch beleidigend. Wenn da etwa in Online-Foren geschrieben wird: Wieso geht ihr nicht auf die Straße? Wieso seid ihr so leise? Der Einsatz Belarus’ für die Ukraine wird unterbewertet. Wir leben derzeit in einem Gulag. Man kann die Belarussen nicht beschuldigen, dass sie nicht auf die Straße gehen. Belarus ist ein Gefangenenlager. Wenn man auf die Straße geht, wird man zu zwei, zehn oder 15 Jahre Haft verurteilt. Das ist ein riesiger Repressionsapparat. Und man könnte die Frage umdrehen: Wo wart ihr 2020? Und bis zur russischen Invasion habt ihr Handel getrieben mit Lukaschenko.
Aber Protest auf der Straße ist ja nicht alles. Es gibt ja auch andere Formen des Widerstandes.
Unsere Partisanen haben die Eisenbahninfrastruktur in Belarus sabotiert und russische Militärtransporte gestoppt. Unsere Leute spenden an die ukrainische Armee. Und wenn man das in Belarus tut und erwischt wird, oder dabei, ukrainische Lieder zu singen, geht man auch für Jahre ins Gefängnis. Wir bekämpfen den selben Feind. Aber freilich: in unterschiedlichen Kontexten. Wir haben ganz grundsätzlich unterschiedliche Ausgangspositionen. Wir können der Ukraine keine Raketenwerfer liefern, wir können keine Milliarden spenden - weil wir sie nicht haben. Wir machen, was wir können. Wir begegnen Desinformationskampagnen, wir kämpfen gegen Propaganda, wir sammeln Informationen über russische Truppenbewegungen. Ohne uns beide kann es keinen Frieden in der Region geben. Und man darf Belarus nicht aus der lokalen Sicherheitsdebatte und auch nicht aus der lokalen Sicherheitsarchitektur ausschließen.
Die EU war sehr klar, was Sanktionen gegen Russland angeht, aber zuletzt vorsichtig mit Sanktionen gegen Belarus. Sehen Sie denn das Risiko, dass man sich das belarussische Regime als möglichen Mittler warm halten und Sie opfern könnte?
Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass die EU gegenüber Belarus zurückhaltend war. Es gab eine ganze Reihe an Sanktionen vor der russischen Invasion in der Ukraine. Ich hoffe, dass die Welt verstanden hat, wie Lukaschenko vorgeht, wie er agiert. Ich glaube auch nicht, dass man es zulassen wird, dass Lukaschenko die Welt wieder austricksen wird. Lukaschenko tut nur so, als wäre er ein Friedensstifter. Das stimmt aber nicht.
Letztlich sitzen allerdings Delegierte eben dieses Regimes jetzt hier in Wien in der OSZE und debattieren Menschenrechte und nicht Sie.
Aber es ist ein Prozess, unsere Partner davon zu überzeugen und dieses Regime komplett zu delegitimieren. Es sind ungewöhnliche Zeiten und in solchen Zeiten muss man unkonventionelle Entscheidungen treffen. Ich sehe Bewegung. Zum Beispiel der Europarat: Man hat es geschafft, das belarussische Regime zu verbannen, und dieser Rat hat stattdessen Beziehungen mit den demokratischen Kräften Belarus’ aufgenommen. Und der Europarat kann laut Statut nur mit Regierungen Beziehungen pflegen. Wir müssen politischen Raum von diktatorischen Regimen nehmen und jenen geben, die tatsächlich für Veränderung stehen. Was die EU angeht: Die EU ist sehr langsam. Aber auch da sehen wir Veränderungen. Wir haben gute Beziehungen aufgebaut, Lukaschenko wird in vielen Staaten nicht als legitimer Präsident gesehen. Er ist nicht Präsident. Genauso, wie Belarus kein Kollaborateur in diesem Krieg ist. Das belarussische Regime ist der Kollaborateur. Es geht hier sehr stark um Worte. Die Welt verändert sich - und vielleicht sind wir diejenigen, die die Welt tatsächlich verändern.
Auch Putin möchte die Welt verändern. Und er will sich neben der Ukraine anscheinend auch Belarus einverleiben. Zugleich könnte man meinen - zumindest, was offizielle Statements angeht -, dass zwischen Lukaschenko und Putin kein Blatt passt.
Das sieht nur so aus. Das sind keine Freunde. Das ist eine Symbiose. Sie haben beide keine andere Wahl. Putin braucht Lukaschenko. Und für Lukaschenko ist Putin der einzige Alliierte. Sie müssen kooperieren - auch wenn sie einander vielleicht lieber beißen würden.
Aber sehen Sie denn das Risiko, dass Belarus offen in diesen Krieg einsteigt?
Das belarussische Regime ist nicht Belarus. Und was lässt Sie glauben, dass das belarussische Regime nicht bereits offen an diesem Krieg beteiligt ist? Lukaschenko weiß, dass, wenn er die Armee sendet, dies sehr vorhersehbare Folgen haben wird. Unsere Armee will nicht kämpfen. Die Belarussen wollen ebenfalls nicht kämpfen. 86 Prozent der Belarussen wollen sich nicht an diesem Krieg beteiligen. Lukaschenko weiß, dass es die Lage in Belarus weiter destabilisieren würde, würde er die Armee in die Ukraine schicken. Das weiß auch Putin. Wofür also? Beide wissen, dass es bereits kocht in der Gesellschaft in Belarus. Lukaschenko führt alle Befehle Putins aus und Putin deckt Lukaschenko. Aber Lukaschenko ist bereits voll und ganz in diesem Krieg - was die Armee angeht, ist das etwas anderes. Aber Lukaschenko ist bereits ein Kriegsverbrecher und er trägt Verantwortung.