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Die Zeit des Nicht-Einmischens geht vorbei

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In Russland hat wenige Tage nach dem Ende der WM die umstrittene Pensionsreform die erste Hürde im Parlament genommen. Beobachter sprechen von einem Paradigmenwechsel im Pakt zwischen Kreml und seinen Bürgern.


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Moskau/St. Petersburg. Im Zentrum von Sankt Petersburg, vor dem Büro der Kreml-Partei "Einiges Russland", sitzt ein Skelett. Den Rücken des Gerippes an die schwere, hölzerne Flügeltür gelehnt, die Füße auf den Asphalt ausgestreckt. Als Erklärung daneben nur ein kleines Schild, mit der Aufschrift: "Warten auf die Pension." Die Aktion ist mehr als ein originelles Memento Mori oder eine russische Variante von "Warten auf Godot", des Klassikers von Samuel Beckett. Damit haben Aktivisten in Sankt Petersburg diese Woche gegen die geplante Pensionsreform protestiert.

Am Donnerstag hat das Unterhaus des russischen Parlaments, die Staatsduma, in einer ersten Lesung das umstrittene Gesetz zur Erhöhung des Pensionsalters angenommen.

Laut dem Gesetz soll das Antrittsalter bis zum Jahr 2034 schrittweise bei Männern von bisher 60 Jahren auf 65 Jahre und bei Frauen von 55 auf 63 Jahre steigen.

Die Pensionsreform ist eines der besonders heißen Eisen der russischen Innenpolitik. Nötige Reformen wurden seit der Wende immer wieder verschleppt, de facto ist das Pensionsalter seit den Dreißigerjahren in Kraft. "Die Zeiten ändern sich nun mal", kommentierte der Arbeitsminister Maxim Topilin lakonisch.

Dass die unpopulären Pläne aber ausgerechnet erstmals an jenem Tag publik wurden, als die Fußball-WM in Moskau angepfiffen wurde, ist wohl ein Hinweis, wie sehr der Kreml den Volkszorn fürchtet. Seit Wochen wird zwar in kleinen, aber landesweiten Aktionen gegen die Reform demonstriert. Eine Online-Petition gegen die Erhöhung des Pensionsalters haben schon knapp 2,9 Millionen Russen unterschrieben.

Dass Pensionsalter angehoben werden, ist im internationalen Vergleich freilich nicht ungewöhnlich. In Österreich liegt das reguläre Antrittsalter bei 65 Jahre bei Männern und 60 Jahre bei Frauen. Mit einer Lebenserwartung von 72,7 Jahren leben die Russen aber statistisch gesehen fast zehn Jahre kürzer, als die Österreicher (81,8 Jahre). Besonders groß ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen: Während Russinnen heute durchschnittlich 77,6 Jahre alt werden, sterben russische Männer bereits im Alter von 67,5 Jahren. In einigen Regionen Russlands, wie Tschukotka in Fernost, liegt die Lebenserwartung der Männer mit 60 Jahren sogar fünf Jahre unter dem anvisierten Pensionsalter.

Auch, wenn Befürworter der Reform betonen, dass die Lebenserwartung weiter steigen wird - die Pläne kommen in einer für Russen schwierigen Zeit. Die Wirtschaft steckt in einer Krise, der Lebensstandard ist gesunken. Die Durchschnittspension liegt in Russland bei knapp 200 Euro. Viele Russen arbeiten in der Pension noch weiter, weil das nicht reichen würde. Trotzdem stellt die Pension auch für jene einen wichtigen Zuschuss dar.

Selbst staatsnahen Umfrageinstituten zufolge lehnen 80 Prozent der Russen die Reform ab.

Opposition erstmals geeint

So haben die Reformpläne etwas geschafft, was zuletzt weder die Wahlen noch die Wirtschaftskrise vermochten: die Opposition zu einen. Im Protest gegen die Reform sind so unterschiedliche Akteure wie Kommunisten, der ehemals inhaftierte Oligarch Michail Chodorkowskij oder der Oppositionelle Alexej Nawalny vereint. Nawalny hatte noch während der WM zu Protestaktionen aufgerufen, diese Woche kam es zu kleineren Aktionen der "Linken Front" oder der liberalen Partei "Jabloko". "Während wir die WM-Tore bewunderten, hat die Regierung beschlossen, ein Tor gegen jeden von uns zu schießen", polterte auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Gennadij Sjuganow zuletzt in der Duma. "Unsere Kinder und Kindeskinder werden uns das nicht verzeihen." Auch in eigenen Reihen scheint die Reform nicht unumstritten. Die Initiative wurde in der Duma zwar deutlich mit 328 zu 104 Stimmen angenommen, einige Abgeordnete der Fraktion "Einiges Russland" blieben der Abstimmung aber fern. Als Zugeständnis an die Kritiker gilt, dass die Anpassungsfrist des Gesetzes noch um einen Monat verlängert wurde. Eine zweite Lesung ist für 24. September vorgesehen. Bevor das Gesetz in Kraft tritt, muss es zudem von Präsident Wladimir Putin unterschrieben werden. Putin, für den die Pensionisten eine zentrale Wählergruppe sind, hat sich nun gegen die Anhebung des Pensionsalters ausgesprochen, aber die Notwendigkeit einer Reform unterstrichen. "Mir gefallen keine der Vorschläge zur Anhebung des Pensionsalters", sagte Putin am Freitag in der Stadt Kaliningrad dem Fernsehen.

Putin sagte, grundsätzlich könne Russland beim Pensionssystem fünf oder zehn Jahre weiter machen wie bisher. "Doch wenn wir dies tun, kann alles explodieren", warnte er. "Wir müssen wichtige Entscheidungen treffen, doch welche?" Vor einer endgültigen Entscheidung werde er alle Meinungen anhören, versicherte Putin. Als Staatspräsident hat er das letzte Wort bei der Verabschiedung der Rentenregelung.

Welche Rolle die Reform für das künftige Verhältnis zwischen Staat und Bürger spielen werde, könne kaum überschätzt werden, so Beobachter. "Es ist ein Paradigmenwechsel", meint die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman in der Zeitung "Independent". Wenn der Staat immer weniger in der Lage ist, seinen Bürgern soziale Sicherheiten zu garantieren, werde der ungeschriebene Deal zwischen dem Kreml und Bürger - Wohlstand und Stabilität gegen Nicht-Einmischung in die Politik - immer weiter aufgeweicht. "Diese Reform wird diese Tendenzen noch verschärfen", glaubt sie.