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Die Zeit des Schmollens ist vorbei

Von Susanne Güsten

Politik

Knapp elf Monate nach dem Krach von Luxemburg hat die Türkei ihren Streit mit der EU für beigelegt erklärt und einen Neubeginn in den eingefrorenen Beziehungen zu Brüssel angekündigt. Als | Durchbruch feiert Ankara, daß die EU endlich Vernunft angenommen und die Türkei als Beitrittskandidaten anerkannt habe. Als Beleg dafür dient den Türken der jetzt vorgelegte Entwicklungsbericht der | EU-Kommission zur Erweiterung der Union, in dem die Türkei als zwölfter Kandidat für die Vollmitgliedschaft genannt wird.


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Mit dem Hochspielen dieser allenfalls semantischen Korrektur versucht die türkische Regierung, ohne Gesichtsverlust aus dem Schmollwinkel herauszukommen · und sich rechtzeitig vor den

Wahlen als Sieger in der Kraftprobe mit Brüssel zu präsentieren.

Euphorisch begrüßte Außenminister Ismail Cem den Bericht der EU-Kommission, in dem die Fortschritte der Türkei ebenso berücksichtigt werden wie die der übrigen elf Kandidatenstaaten. "Indem die EU-

Kommission die Türkei als einen von zwölf Kandidaten nennt, hat sie den Weg für die Entwicklung der türkisch-europäischen Beziehungen freigemacht", erklärte Cem. "Wir freuen uns, daß die

Kommission die ungerechte Diskriminierung der Türkei beendet hat." In einem Kommunique sprach das Außenministerium gar von einer "neuen Grundlage für die zukünftigen Beziehungen" mit der EU.

Der Jubel aus dem Außenministerium täuschte auch die türkische Presse darüber hinweg, daß sich an der Brüsseler Linie grundsätzlich nichts geändert hat. "Neue Hoffnung von der EU" und "Die

Türkei ist zwölfter Kandidat" titelten die Zeitungen am Donnerstag. Übergangen wird in diesem Überschwang, daß der Begriff "Kandidat" keinerlei bindende politische Bedeutung hat, wie in EU-Kreisen

immer wieder betont wird, und daß die Bezeichnung der Türkei als Aufnahmekandidat keineswegs eine neue Entwicklung darstellt. Die semantische Korrektur geht bereits auf den EU-Gipfel von Cardiff im

Juni zurück; damals war Ankara auf den Besänftigungsversuch allerdings noch nicht eingegangen.

In der Substanz wurden die Luxemburger Beschlüsse, auf die Ankara mit dem Einfrieren der Beziehungen reagiert hatte, weder durch Cardiff noch durch den jetzigen Entwicklungsbericht der Kommission

revidiert: Die Türkei zählt weiterhin weder zur ersten noch zur zweiten Gruppe der Aufnahmekandidaten, sondern bleibt in einsamer Wartestellung abgeschlagen - ob sie nun als

"Kandidat" bezeichnet wird oder nicht. Dem ist man sich in der türkischen Regierung auch wohl bewußt; im Vorfeld der Veröffentlichung des Berichts wurde im Kabinett deshalb durchaus kontrovers

diskutiert, wie damit umzugehen sei.

Europaminister Sükrü Sina Gürel etwa, der eine harte Linie vertritt, argumentierte im Vorfeld des Berichts, die Türkei sei ohnehin schon seit Jahrzehnten Kandidat. "Geändert hat sich im Grunde

nichts", erklärte er vergangene Woche. Im diplomatischer denkenden Außenministerium sieht man jedoch eine Entwicklung von Luxemburg über Cardiff zu dem EU-Kommissionsbericht, in dem der Türkei ganze

50 Seiten gewidmet sind. So ernsthaft und ausführlich seien die türkischen Qualifikationen bisher noch nicht untersucht worden, hieß es in dem Ministerium am Donnerstag. APA