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In Brüssel regt sich Kritik an der eigenen Naivität gegenüber Russland.
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Brüssel. Es ist immer hart, wenn das Bild, das man - ganz selbstverliebt - von sich selbst entworfen hat, in der Wirklichkeit zertrümmert wird. Und um so härter, wenn diese Entblößung so unvermittelt und vor aller Augen über einen hereinbricht.
Genau dies ist vergangene Woche der Europäischen Union widerfahren, als die Ukraine erklärt hat, das fix und fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit Brüssel nicht zu unterzeichnen. Die Großmacht Russland, von der die Ukraine in vielerlei, ganz besonders aber in energiepolitischer Hinsicht abhängt, hat andernfalls Kiew mit gravierenden Konsequenzen gedroht. Angesichts der aufkommenden kalten Jahreszeit war der aktuellen, ohnehin pro-russischen ukrainischen Regierung das Hemd näher als der europäische Rock.
Die Europäische Union sieht sich selbst außenpolitisch als "soft power", als Raum gemeinsamer Werte, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, vor dem sich niemand fürchten müsse. Ost- und Südosteuropa sind, von dieser Perspektive aus betrachtet, ein geografischer Raum in unmittelbarer Nachbarschaft, den es sicherheitspolitisch zu stabilisieren und im Anschluss daran zu demokratisieren gilt.
Ohne Strategieund Plan
Die Herrscher im Kreml sehen das traditionell ein wenig anders. Brüssels Ausgriff nach Osten ist für Russland eine geopolitische Kampfansage um Macht und Einfluss. Und die gilt es für den Kreml, wenn es denn in seiner Macht liegt, zu unterbinden.
Brüssel wurde von dieser Abfuhr eiskalt erwischt. Politisch sowieso. Aber auch die Frage, wie es passieren konnte, dass der gesamte diplomatische Apparat von Union und Nationalstaaten diese Entwicklung nicht hat kommen sehen, wird hinter vorgehaltener Hand diskutiert.
"Wir haben schlicht keine wirkliche Russland-Strategie", bringt das grundsätzliche europäische Dilemma im Umgang mit Moskau ein hochrangiger Wiener Diplomat in Brüssel nüchtern auf den Punkt.
Emotionaler formuliert es ein EU-Kommissar: "Schade, schade, wir haben eine große Chance verpasst." Der Mann weiß dank seiner Biografie, welche Bedeutung eine pro-europäische, eine stabile demokratische Ukraine für den gesamten Kontinent besitzt. Und er bedauert die wirtschaftliche Kraft des Faktischen, die es nicht zulässt, dass die Union das geopolitisch ungemein wichtige Land ganz einfach aus der Abhängigkeit Russlands heraus kauft. Eine Milliarde Euro war als Unterstützung für Kiew im Assoziierungsabkommen vorgesehen; für die gesamte Nachbarschaftspolitik der EU, die auch ganz Nordafrika umfasst, sind lediglich 14 Milliarden im neuen EU-Haushalt bis 2020 vorgesehen.
Das Imperiumkehrt zurück
Über die mittelfristigen Folgen der Entscheidung Kiews für Europa macht sich dieser EU-Kommissar, der nicht genannt werden will, keine Illusionen: "Ein Russland ohne die Ukraine bleibt Russland, aber Russland mit der Ukraine ist ein Imperium." Und Mächte dieser Kategorie waren in der Geschichte stets auf weitere Expansion hin angelegt. In Osteuropa hat man für die Art der Bedrohung nach wie vor ein ausgeprägtes Sensorium.
Für die künftigen europäisch-russischen Beziehungen könnte diese Entwicklung immerhin von Vorteil sein, hofft der hochrangige Politiker, immerhin "sehe man jetzt klarer" und müsse sich "keinen Illusionen mehr hingeben" in Bezug auf eine mögliche Demokratisierung des euro-asiatischen Riesenreichs. Anzunehmen, dass er damit die anhaltende Selbsttäuschung Europas über das Verhältnis zu Russland meint.
Keinesfalls dürfe Europa jedoch daraus die Konsequenz ziehen, der Ukraine nun den Rücken zuzudrehen. Vielmehr gelte es jetzt "Mittel und Wege zu suchen, wie trotzdem in die junge, vorwiegend pro-europäische Generation in dem Land investiert" werden könne, sowie die Grenzen für Personen und Güter so weit wie irgend möglich durchlässig zu halten. Die Entstehung eines neuen Eisernen Vorhangs an den Ostgrenzen der Europäischen Union müsse um jeden Preis verhindert werden.