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Am Sonntag um 2.00 Uhr Früh werden die Uhren um eine Stunde nach vorne gedreht. All diejenigen, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, werden dankbar sein, dass sich ihre Fadesse um eine Stunde verkürzt. Gedanken über das Jetzt.
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Als hätten die Hüter der Uhr keinen besseren Zeitpunkt finden können, drehen sie auch heuer, in diesem ungewöhnlichen Jahr 2020, am Sonntag um 2.00 Uhr Früh die Zeiger um eine Stunde nach vorne. Ab Sonntag 3.00 Uhr gilt Sommerzeit. Wie es mit der Zeitumstellung in Europa weitergeht, ist zwar noch offen, doch all diejenigen, denen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, werden vielleicht dankbar sein, dass sich ihre Fadesse um eine Stunde verkürzt.
Erst die Bewegung macht die Zeit erfahrbar. Wenn sich sehr wenig verändert, werden selbst kleine Veränderungen intensiver wahrgenommen. Mangels Planung sind wir auf die Gegenwart zurückgeworfen. Anlass genug, um über die seltsame Periode der physischen Distanz, die wir derzeit erleben, nachzudenken.
"Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sogleich werden vom Grunde seiner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und die Verzweiflung aufsteigen."
So gehe der Mensch mit seiner Lebenszeit um, befand der französische Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph Blaise Pascal (1623-1663), dessen Name als physikalische Einheit für den Druck die Zeiten überdauerte. Ihm zufolge gibt sich der Mensch der Illusion hin, dass er zu einer beglückenden Ruhe finden könnte, wenn er seine Ziele erreicht hat. Doch diese Ruhe stelle sich niemals ein, weil der Mensch nicht in Frieden bei sich selbst sein könne, nicht stillzuhalten vermöge, zu dauerhaftem Glücksempfinden nicht fähig sei.
Wie gut täten Perspektiven und Ziele!
Buddhisten würden ihm wohl wiedersprechen. Doch in diesen Tagen lässt sich Pascals Gedanken zum Dasein einiges abgewinnen. Immerhin laufen wir, an das zu Hause gebunden, pausenlos Gefahr, uns mörderisch zu langweilen. Zu dem von Pascal beschriebenen Zustand gesellt sich einer des unfreiwilligen Stillstands. Wir ruhen nicht nach getaner Arbeit, sondern unzählige Menschen können ihre Arbeit erst gar nicht tun, was die Rechtfertigung für ein entspanntes Ruhen zunichtemacht. Wie gut täten Perspektiven und Ziele! Die Ziele aber entziehen sich, weil niemand weiß, wann sie sich denn verwirklichen lassen. Unsere Zeit steht still. Sie fühlt sich an wie die Reise in einer Zeitkapsel, in der das Coronavirus die Regeln im Spiel mit uns vorgibt und dabei ständig Loopings fährt.
Wir harren und hoffen, berechnen und zählen Zuwachsraten von Coronavirus-Neuerkrankten in Prozent. Bei zehn Prozent wird das Leben normaler - oder bei fünf? Wenn es zehn Tage dauert, bis sich die Zahl der Neuinfizierten verdoppelt, dann dürfen wir wieder hinaus. Oder müssen es 20 Tage sein? Zwischen Ostern und Mitte Mai ist der Peak erreicht - aber danach? Müssen wir abwarten, bis 60 Prozent der Bevölkerung Covid-19 überstanden haben, bevor die Kinder wieder zur Schule gehen?
Normalerweise besteht das Leben aus Plan und Pflicht. Jetzt hängen die meisten Vorhaben in der Luft, die Pflichten aber müssen, unter erschwerten Umständen, trotzdem erfüllt werden.
Beginnen wir mit den Plänen. Viele von uns verfolgen zahlreiche Aktivitäten am Tag. Um alle Programmpunkte unterzubringen, müssen wir deren Abfolge minutiös organisieren. Weckerläuten, Frühstück, Kind in die Schule, arbeiten, heimfahren, Hausaufgaben, Essen, Kind ins Bett, Geschichte vorlesen, sauber machen, den nächsten Tag vorbereiten. Sitzungen, Abgaben, Abendkurse, Arztbesuche, Elternabende, Essen mit Freunden, Familienbesuche, Zirkusvorstellungen, Kindergeburtstag, Einkauf, Urlaub, Handwerker, Balkon für Frühling putzen - was tut man nicht alles, damit etwas weitergeht. Es lässt sich sogar das Desaster planen, wie Filmregisseur Ingmar Bergman (1918-2007) in einem Interview mit der BBC ausführt: "Einer meiner Dämonen ist die Katastrophe. Ich habe ständig Angst, dass eine Katastrophe hereinbricht. Man kann sich jeden Moment vorstellen, wie dieser Tag ablaufen wird und was man tun wird, damit die Katastrophe nicht zum Desaster wird, und dann kommt es doch anders."
"Eine Minute ist ein immens langer Zeitraum"
Im Kalender stehen lauter Termine, die nicht mehr stattfinden werden. Die ganze Welt ist gecancelt. Gasthausinhaber wissen nicht, wie lange sie ohne Gäste durchhalten. Geschäftsbesitzern fehlen die Einkünfte, mit denen sie Waren für die nächste Saison bezahlen. Taxifahrer stehen stundenlang an ihren Standplätzen. Kinokarten öffnen keine Tür. Gutscheine können nicht eingelöst werden, Flugtickets sind für Maschinen, die nicht abheben, Bahnkarten nach Italien gibt es nicht. Die Listen von gestern sind nicht mehr relevant, Listen für morgen sind Träumerei.
Gehen wir weiter zur Pflicht. Supermarktkassierinnen, Gesundheitspersonal, Drogisten und Trafikanten verrichten ihre tägliche Arbeit für die Gemeinschaft, stehen ständig mit Menschen im Kontakt und sind aber kaum geschützt. Nebenbei müssen sie sich um ihre daheimgebliebenen Kinder kümmern. Alleinstehende im Homeoffice haben niemanden zum Reden. Doch auch Familien sind vor Proben gestellt. Während sie sich normalerweise jahrelang darauf vorbereiten können, dass der Partner "irgendwann in der Pension" zu Hause sein wird - und wir wissen, dass daran viele Ehen zerbrechen -, picken sie jetzt von einem Tag auf den anderen aufeinander. Zwei Leben, die untertags bisher nur periphere Berührungspunkte hatten, kollidieren. Kinder, die gestern noch darüber jubelten, schulfrei zu haben, zählen heute still ihre Puzzlesteine oder toben. Alles von vorher liegt in einem Übersiedelungskarton, der erst dann ausgepackt werden kann, wenn der neue Schrank da ist, von dem aber niemand weiß, wann er geliefert wird. Darf ich raus? Nein.
"Eine Minute ist eigentlich ein immens langer Zeitraum. Warte, jetzt beginnt sie. Zehn Sekunden. Diese Sekunden - siehts du, wie lange sie sind? Die Minute ist noch immer nicht vorbei! Ah, endlich. Jetzt ist sie fort." So lässt wiederum Ingmar Bergman, diesmal in seinem Film "Die Zeit des Wolfs", die Dauer einer Minute erleben. Das Hier und Jetzt kann, auf diese Weise verbracht, sehr langweilig sein.
Das Hier und Jetzt kann aber auch intensiv erlebt werden und somit kurzweilig sein. Genuss zum Beispiel setzt zumeist spontan ein. Natürlich lassen sich genussvolle Aktivitäten planen, aber der Moment des Genießens nicht. Auch Freundlichkeit wird von Herzen gegeben und Nähe zumeist überraschend erlebt. Erfahrungen werden unerwartet gemacht, insbesondere in Momenten, die ohne Ablenkung passieren. Aber auch Abscheu, Abneigung und Aggression lassen sich schwer kontrollieren, was zu albtraumhaften Situationen führen kann. Im Zuge von Ausgangssperren und Heim-Quarantäne hat die häusliche Gewalt, erwiesenermaßen in China, deutlich zugenommen.
Der Moment, zurückgeworfen auf die Gegenwart
Zurück zur Gewaltlosigkeit: Wenn kein Plan die Aufmerksamkeit in eine immaterielle Zukunft hetzt, erleben wir den Moment zurückgeworfen auf die Gegenwart. Im Stillstand herrscht so etwas wie fokussierte Aufmerksamkeit. Sie gibt die Chance, Situationen und Menschen neu oder besser kennenzulernen. Im besten Fall tun sich Räume auf, öffnen sich neue Horizonte oder einfach nur unsere Augen. Wir machen neuartige, vielleicht tiefere Erfahrungen als sonst und erleben vielleicht tatsächlich eine Zeit der inneren Ruhe. Und dann kann eine Minute unheimlich spannend sein.
"Was ist, hat keinen Anfang und wird nie zerstört werden. Es ist ganz, still und ohne Ende, war weder noch wird sein, es ist einfach jetzt völlig eins, fortdauernd." Diese Sicht der Zeit ist von dem Vorsokratiker Parmenides überliefert, Zeit fließt nicht und ihr Lauf ist eine Illusion. Parmenides beschreibt es vom Standpunkt des Absoluten.
Doch die menschliche Erfahrung lässt sich ohne Zeit nicht ordnen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kategorisieren unser Erleben und lassen so Ursache und Wirkung, Handlung und Ergebnis, Wunsch und Erfüllung entstehen.
Denn "der Mensch kann die Zeit nur begreifen, indem er sie erfährt. Unsere Erfahrung der Zeit ist, dass sie vergeht. Wir haben immer das Gefühl, dass wir uns entlang einer Lebenslinie bewegen, auf der wir eine spezielle Position einnehmen", meint die Physikerin Fay Dowker vom Imperial College in London: "Es gibt immer etwas, das gerade passiert ist, und eine Zukunft, die werden muss - die Zeit vergeht." Auch jetzt, in diesen Wochen des aufgezwungen Stillstands, empfinden wir es so. Doch selbst wenn es den Anschein hat, dass wenig passiert, könnte diese ungewöhnliche Periode Unerwartetes für die Zukunft bringen. Etwa die Erkenntnis, dass in der Nacht auf Sonntag zwischen 2.00 und 3.00 Uhr keine Zeit vergeht.