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Die Zeitachse als Crux beim Klimaschutz

Von Alfred Schuch

Gastkommentare
Alfred Schuch hat bis vor kurzem ein Pipeline-Projekt durchs Kaspische Meer in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission beraten. Davor war er unter anderem für die Österreichische Energieagentur sowie die E-Control tätig, auch auf EU-Ebene, und hat als Abteilungsleiter der Hydrocarbons Unit mitgeholfen, das Sekretariat der Energiegemeinschaft in einem multikulturellen Umfeld zum Laufen zu bringen.
© privat

Der Integrierte Netzinfrastrukturplan ist ein sinnvolles, aber komplexes Instrument. Und es fehlen die benötigten Gesetze.


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Gemäß dem Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz (EAG) ist ein Integrierter Netzinfrastrukturplan (NIP) verpflichtend zu erstellen und bis Ende Juni zu veröffentlichen. Damit wird die Energieinfrastrukturplanung von projektorientierten Ansätzen hin auf eine übergeordnete, strategische Ausrichtung gehoben. Bei Planung, Errichtung und Betrieb von Infrastruktur werden also die Wechselwirkungen und Synergien zwischen den Energieträgern und den Verbrauchs- sowie Erzeugungssektoren nutzbringend verwertet. Die dabei getroffenen Grundannahmen - unbeschadet der Kompetenzen der Länder - sind:

die Erreichung der Klimaneutralität bis 2040 (100 Prozent national bilanziell erneuerbarer Strom im Jahr 2030);

die Modernisierung der Energieinfrastruktur hinsichtlich nachhaltiger und kontinuierlicher Versorgungssicherheit;

die kosteneffiziente Umsetzung der Energieinfrastruktur;

die Koordinierung des Netzausbaus mit dem Ausbau von Anlagen zur Speicherung von erneuerbarem Strom und Gas - bei Berücksichtigung der nationalen Strom- und Gasinfrastrukturpläne;

die strategische Umweltprüfung zur Einhaltung ökologischer Kriterien.

Beim Blick auf die Aufgabenstellung wird klar, dass es sich um ein sehr sinnvolles Instrument, aber auch um einen äußerst komplexen, langwierigen Planungs- und Abstimmungsprozess handelt, der dementsprechend Zeit benötigt. Dies umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass der NIP die Entwicklung des zukünftigen Energieverbrauchs, der nationalen Energieaufbringung, Flexibilitätsoptionen, saisonale Speicherungs- und Sektorkopplungspotenziale sowie die notwendige Infrastruktur für Wasserstoff ins Kalkül ziehen muss.

Keine gesetzliche Basis und "moving targets"

Spätestens hier kommt die Zeitachse als Crux voll zum Tragen, da weder das Energieeffizienzgesetz (EEffG) im vollen Umfang (lediglich eine weniger wirksame "Light"-Variante) noch das Erneuerbare-Wärme-Gesetz (EWG), das Erneuerbare-Gase-Gesetz (EGG) oder das Klimaschutzgesetz (KSG) vorliegen und somit die jeweilige gesetzliche Basis für die entscheidenden, nachstehend kurz umrissenen Kriterien nicht gegeben ist - zumal es sich teilweise um "moving targets" handelt:

Das Energieeffizienzgesetz, mit den darin geregelten Energieeinsparungszielen, hat erhebliche Auswirkungen auf Österreichs Gesamtenergieverbrauch.

Das Erneuerbare-Wärme-Gesetz bringt große Auswirkungen auf den Wärmebedarfssektor und die Aufbringungsform der Wärme (etwa den Stromleistungsbedarf der Wärmepumpen und den damit einhergehenden Stromnetzausbau, der zeit- und kostenintensiv ist) mit sich.

Das fehlende Erneuerbare-Gase-Gesetz regelt die Vorkehrungen hinsichtlich Biomethanerzeugung (Bedarfsmenge, Anlagenstandorte und Anschluss an die Gasinfrastruktur) und erneuerbarem Wasserstoff (Bedarf, Standorte der Elektrolyseure, folglich Stromleitungskapazitäten samt Netzausbauerfordernissen etc.).

Durch das Klimaschutzgesetz sollen wirksame Maßnahmen zur Einhaltung von Treibhausgasbudgets erarbeitet und diese umgesetzt werden - somit effektiven Klimaschutz ermöglichen.

Keine CO2-Speicherung, aber Abtransport in andere Länder

Die Begrenzungen des Treibhausgasbudgets haben entscheidende Auswirkungen auf die Zusammensetzung der zukünftigen Energieträgerlandschaft in Österreich. In diesem Zusammenhang ist auf die fehlende "Carbon capture utilization and storage"-Strategie (CCUS) - also die Abscheidung von Kohlenstoffdioxid insbesondere aus Verbrennungsabgasen und dessen angeschlossene Verwendung bei weiteren chemischen Prozessen - einzugehen. In Österreich ist ebenso wie in Deutschland die Speicherung von CO2 gesetzlich verboten, aber ein Abtransport in andere Länder - zum Beispiel Norwegen - zum Zwecke der sicheren Einspeicherung erlaubt. Deutschland entwickelt eine solche Strategie, um Sektoren wie Zement- und Stahlherstellung, die sehr schwer dekarbonisiert werden können, hinsichtlich Treibhausgasemissionen einer möglichen Lösung zuzuführen.

Eine CCUS-Strategie würde auch die Herstellung synthetischer Kraftstoffe, die im Flugverkehr - aber auch in anderen Bereichen, in denen eine Dekarbonisierung anderenfalls schwer erreicht werden kann - eingesetzt werden können, erleichtern. Hier könnte man beispielsweise untersuchen, ob die Biomethananlagen, die ohnehin CO2 vom Biogas abscheiden müssen, dieses getrennte CO2 der synthetischen Kraftstoffindustrie zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten können. Die Entwicklung der Wasserstoff-, der Biomethan-, der synthetischen Kraftstoff- und der CCUS-Industrie sollte Hand in Hand gehen, um Synergien heben zu können - folglich müsste der Aufbau einer CO2-Infrastruktur im NIP enthalten sein.

Mindestens 75 neue Schiffe, um Wasserstoff zu transportieren

Um nochmals auf die Zeitachse als Hürde hinzuweisen, hier zwei Beispiele: Die EU sieht vor, dass bis 2030 rund 10 Millionen Tonnen Wasserstoff importiert werden sollen - davon 6 Millionen pur und 4 Millionen Tonnen in Ammoniak, Methanol und anderem gebunden. Derzeit gibt es einige wenige Schiffe in Japan mit einem Ladegewicht von jeweils 100 Tonnen flüssigem Wasserstoff. Bis 2027 sollen Schiffe mit einer Kapazität von jeweils rund 3.300 Ladetonnen flüssigem Wasserstoff auf den Markt kommen. Aufgrund des geringen Gewichtes von lediglich 71 Kilogramm je Kubikmeter flüssigem Wasserstoff und der aufwendigen Technik sind diese Schiffe zwar groß, erreichen aber ein relativ geringes Ladegewicht. Im Vergleich dazu kann ein mittleres LNG-Schiff etwa 60.000 Tonnen verflüssigtes Erdgas (das LNG wiegt rund 440 Kilogramm je Kubikmeter) transportieren.

Um 6 Millionen Tonnen flüssigen Wasserstoff pro Jahr in die EU importieren zu können, bräuchte es dafür zumindest 150 solcher Schiffe (nur für die EU), die innerhalb von drei bis vier Jahren hergestellt werden müssten. Dafür reichen die weltweiten Werftkapazitäten nicht aus - selbst wenn man das komplexe Know-how für den Bau solcher Schiffe allen Werften zur Verfügung stellen würde. Auch wenn man unterstellt, dass dir Hälfte des Wasserstoffs - also 3 Millionen Tonnen - mittels Rohrleitungen importiert würden, müssten noch immer mindestens 75 solcher Schiffe (150 Meter lang und 40 Meter breit) gebaut werden. Ein Regasification-Terminal - also eine Anlage, in der der flüssige Wasserstoff nach der Anlandung zwischengespeichert und danach in gasförmigen Zustand gebracht wird - ist derzeit nicht in Sicht.

Notwendige Zuwachsraten von 96 Prozent pro Jahr

Und selbst wenn es gelingen sollte, die Transportkapazitätshürden zu überwinden, muss man genügend Elektrolysekapazitäten errichten, um Wasserstoff in ausreichenden Mengen erzeugen zu können. Unter der optimistischen Annahme, dass die angepeilten Elektrolysekapazitäten in der EU tatsächlich bis 2030 umgesetzt werden könnten - obwohl die endgültigen Investitionsentscheidungen im Vergleich zu den Zielen sehr gering sind, bedeutet dies, dass sich der Zuwachs der Herstellungskapazität für die Elektrolyseure bis 2030 pro Jahr um 96 Prozent erhöhen müsste. Diese Zuwachsraten haben weder Photovoltaik- noch Windkraftanlagen erreicht - nicht einmal die Handyproduktion konnte so einen steilen Anstieg verzeichnen. Solche Steigerungen wurden bisher nur unter Kriegswirtschaftsbedingungen erreicht.

Es scheint an der Zeit zu sein, ins Tun zu kommen - zumal ein neuer NIP erst 2028 vorgesehen ist und dann, im Falle einer signifikanten Anpassungserfordernis, diese für die Zielerreichung womöglich zu spät kommt. Salopp formuliert: Der NIP muss "auf Anhieb passen".