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Die Zukunft der Mobilität

Von Petra Schäfer

Reflexionen

Ein bemerkenswertes, neues Konzept für den Ballungsraum an der amerikanischen Ostküste zeigt, wie Großstädter im Jahr 2030 wohnen und sich fortbewegen werden. Eine Blaupause für Metropolen weltweit.


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In manchen Großstädten wie London und Shanghai liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Autos bei gerade einmal 16 Kilometern pro Stunde. Kaum schneller als eine Pferdekutsche im Jahr 1900. Und es kommt noch wilder: Bis zum Jahr 2050 werden nach Schätzungen der New Yorker Columbia University weltweit sieben Milliarden Menschen in Städten leben. Das zwangsläufig wachsende Verkehrschaos fordert auf Sicht neue Verkehrskonzepte für die bevorzugten Lebensräume der Menschen, die Metropolen.

Leben in Metropolen könnte zukünftig so aussehen, dass nach der Rushhour der Asphalt wegklappt – und grüne Rasenflächen kämen zum Vorschein...   Vision: Höweler/Yoon

Großraum "Boswash"

Natürlich ist das Thema so alt wie die Erfindung der Science-Fiction-Filme. Wer hat nicht schon fliegende Fahrzeuge, die sich durch schwebende Städte schlängeln, auf der Kinoleinwand gesehen. Doch neue Stadtplanungskonzepte wie jene von Eric Höweler und Meejin Yoon wollen mehr sein als Zukunftsmusik: Auf dem New Yorker "Ideas City Festival", einer Art städtischer Ideenschmiede, haben sie dieses Jahr ihre Vision vorgetragen, nachdem sie vergangenen Herbst den mit 100.000 Euro dotierten Stadtentwicklungs-Preis der "Audi Urban Future Initiative" gewonnen haben. Es ist einer der höchst dotierten Planungswettbewerbe weltweit, finanziert vom Ingolstädter Automobilkonzern Audi.

Eine auf den ersten Blick eigenartige Liaison: Ein Fahrzeugbauer favorisiert Ideen für weniger Verkehr in Ballungsräumen. Urbanes Leben entwickelt sich zum allseits begehrten Träger für das Firmenimage. "Sonst werden die Autos irgendwann aus den Städten verbannt - und die Hersteller haben das Nachsehen", bringt es eine Audi-Mitarbeiterin hinter vorgehaltener Hand auf den Punkt.

Mit dem "Shareway"-Konzept wollen die beiden Architekten Höweler und Yoon das individuelle Autofahren möglichst nahtlos mit den öffentlichen Verkehrsmitteln verbinden. "Der Zugriff auf Mobilität ist der ultimative Taktgeber des urbanen Lebens", sagt Eric Höweler. Für ihre Ideen haben sich die beiden Amerikaner ihre unmittelbare Lebensumgebung ausgesucht: den Großraum zwischen Boston und Washington, genannt Boswash. Der Kunstname stammt aus den 1960er Jahren, als die Region immer mehr zusammenwuchs und sich über Straßen, Züge und Flugverbindungen vernetzte. Heute erwirtschaften 53 Millionen Einwohner ein Drittel des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts, doch die große Investitionswelle der Ära des Präsidenten Dwight D. Eisenhower ist längst vorüber. Autobahnen, Straßen und Vorstadtsiedlungen entsprechen den Anforderungen des vergangenen Jahrhunderts, nicht der Gegenwart.

"Die Städte sind der Motor des Wandels", meint Mark Wigley, der das Architektur-Institut der Columbia University leitet und mehrere Forschungsprojekte zu den Megatrends der Urbanisierung durchgeführt hat. Wissenschafter der Columbia University haben zuletzt fünf Hypothesen erarbeitet, was Großstädte bis 2050 prägen wird, unter anderem der Generationenwandel und die sich stark verändernde Mobilität.

Nahtlose Übergänge

"Selbst die kleinste Stadt ist ein dichtes Gefüge aus sich überschneidenden Netzwerken", schreiben die Wissenschafter in der neuen "Extreme Cities"-Studie. Menschen, Güter und Ideen würden keinen vorgefertigten, linearen Mustern folgen. Städte böten nahtlose Übergänge zwischen einzelnen Systemen. Die Vielfalt und Asymmetrie der Wege schaffe neue Verbindungen, neues Potenzial und neue Nutzeffekte.

Genau das versuchen Höweler und Yoon mit ihren Ideen. Das Ehepaar mit kolumbianischen und südkoreanischen Wurzeln, das einen zweijährigen Sohn hat, lebt und arbeitet in Boston - und lässt den eigenen Familien-Kombi meistens stehen, um mit dem Zug oder dem Bus zu fahren. "Ich habe eine App auf meinem Smartphone, die mir immer genau anzeigt, wie lange es noch dauert, bis mein Bus kommt", erklärt Meejin Yoon. Die 39-Jährige lehrt auch Architektur am Massachusetts Institute of Technology, einer Hochburg für Zukunftstechnologien. Es ist dieser moderne Blick auf die Mobilität, der das Konzept so ungewöhnlich macht.

"Bei Studienabschluss hat der durchschnittliche amerikanische Student 26.500 Dollar Schulden", sagt Yoon, "nicht mehr jeder kann sich ein Auto leisten." Es gilt also, über das Teilen und die schnellen Übergänge von einem Verkehrsmittel zum nächsten nachzudenken. "Shareway" statt "Highway" ist die Devise.

Zugtrasse auf Autobahn

Neuer zentraler Knotenpunkt könnte Newark in New Jersey werden, wo alle verschiedenen Transportmittel in einem "Superhub" zusammenkommen. Aufbauend auf der existierenden Infrastruktur, den Autobahnen, wollen die beiden Architekten Hochgeschwindigkeitsverbindungen und nahtlose Übergänge für die "letzte Meile" bis zur Haustür entwickeln. Beispielsweise könnten auf einer Autobahn Zugtrassen aufgestockt werden, auf denen die Züge mit bis zu 320 Stundenkilometern unterwegs sind. An den Haltepunkten wären schnelle Wechsel zu preiswerten Kurzstreckenelektrofahrzeugen möglich, die den Nutzer dann nach Hause bringen.

Aufbauend auf der existierenden Infrastruktur, den Autobahnen, wollen die beiden Architekten Höweler und Yoon Hochgeschwindigkeitszugverbindungen und nahtlose Übergänge für die "letzte Meile" bis zur Haustür entwickeln, etwa mittels Elektrofahrzeugen. Vision: Höweler/Yoon

In den Städten könnten sogenannte "intelligente Oberflächen" Menschen und Verkehr miteinander versöhnen. Schon seit mehr als zehn Jahren gibt es unter
anderem am MIT Versuche mit elektromagnetischen Sensoren, die unter der Straßenoberfläche erkennen, ob sich Fahrzeuge
nähern, und entsprechende Reaktionen auslösen.

Rasen statt Asphalt

Denkbar wäre, dass sich die Straßen mit Hilfe der Sensorik dem Bedarf anpassen - ist die Rushhour vorüber, könnte der Asphalt wegklappen und grüne Parkflächen kämen zum Vorschein. Die Elektroautos könnten per Carsharing genutzt werden, sogar die Häuser wären für Pendler wochentags als Timesharing-Objekte je nach Arbeitsort flexibel nutzbar. Der amerikanische Traum bekäme ein neues Gesicht.

"Wir haben unser Projekt "Shareway" genannt, um aufzuzeigen, dass es beim amerikanischen Traum um Individualität und Bequemlichkeit geht, aber nicht unbedingt um Besitz", erläutert Höweler.

Dazu gehört auch das "Share-stay"-Modell, mit dem Pendler verschiedene Wohnungen je nach Arbeitsort gemeinsam nutzen können: Es vereinfacht die leidige Wohnungssuche in Ballungsräumen. Mit einer speziellen App für das Smartphone wählt sich jeder Interessierte über die sozialen Netzwerke passende Mitbewohner aus. Jeder Bewohner zahlt nur Miete für die Zeit, die er tatsächlich zu Hause ist. Das Verfahren würde die durchschnittliche Monatsmiete auf zehn Dollar senken.

Für Höweler ist das Wohnkonzept ein Beispiel für "kollektiven Konsum". Gerade die junge Generation würde heute nicht mehr davon träumen, sich ein eigenes Haus zu kaufen, sondern verschiedene zu nutzen, je nach Lebenslage und Laune. "Das würden sehr viele Menschen begrüßen, wenn es flexibel und einfach zu handhaben wäre. Man müsste sich nicht mehr um den Unterhalt kümmern, und die Verpflichtung, den Rasen zu mähen, würde der Vergangenheit angehören", sagt Höweler.

Eine neue Verkehrs- und Wohninfrastruktur zieht neue Ideologien nach sich: "Farm Share" sehen die Architekten deshalb als Teil des Gesamtkonzepts. Ungenutzte Flächen entlang der neuen Infrastruktur-Ader könnten als Selbstversorger-Inseln dienen, wo Nachbarn ihr Gemüse
für den lokalen und regionalen Bedarf anbauen. Andere Flächen könnten der industriellen Agrarproduktion im großen Stil gewidmet sein.

Das Gesamtkonzept für die Boswash-Region ist bis zum Jahr 2030 ausgelegt - reichlich Zeit, wie es scheint. Einen ersten Schritt zur Realisierung haben Höweler und Yoon jedoch schon vor kurzem in New York gemacht: Stadtplanern aus Boston, New York und Newark haben sie einen konkreten Plan für ein multifunktionales, modernes Parkhaus in unmittelbarer Nähe des Bostoner Büroviertels vorgestellt. Dort sollen die Gewohnheiten und Wünsche der Pendler erforscht werden, die sich täglich mit dem Auto durch den Stau zur Arbeit quälen. Mit den Ergebnissen können dann bessere Lösungen für den täglichen Verkehr angestoßen werden.

Wo bleibt das Auto?

Für die Autos geht es um das Bleiberecht in der City. "Das urbane Leben prägt die Zukunft des Autos", bringt es Yoon auf den Punkt. Nachvollziehbar, dass sich Autohersteller wie Audi frühzeitig damit beschäftigen. Der Ingolstädter Konzern will neben der laufenden Stadtplanungsausschreibung auch das geplante, futuristische Pendler-Parkhaus in Boston finanzieren. Aber sind die neuen Konzepte nicht rufschädigend für ein Unternehmen, das davon lebt, immer mehr Autos zu verkaufen?

Luca de Meo, seit 2012 Vertriebs-Vorstand von Audi, verneint. Die gesamte Initiative fördere Erkenntnisse zutage, "die manchmal auch wehtun". "Die Perspektive auf das gesamte System der Mobilität in Städten ist wichtig, damit wir mit dem Wissen unseren eigenen Vorsprung ausbauen können", erklärt der gebürtige Italiener.

Vorfahrt für Fußgänger

In Nordamerika hat Audi gegenüber seinem Rivalen aus München einiges aufzuholen: BMW verkauft auf dem größten Automarkt der Welt mehr als doppelt so viele Fahrzeuge wie Audi. Um die kommerziellen Hintergedanken wissen auch die Stadtplaner der großen Ostküsten-Städte wie Boston, New York und Newark, die das neue Infrastrukturprojekt aus erster Hand präsentiert bekommen. Keller Easterling, Professorin der Yale School of Architecture, ist verblüfft, dass ein Autohersteller überhaupt den Schritt auf das Parkett der Infrastrukturplanung wagt: "Kein Autobauer hat das bisher so konkret vorangetrieben."

Der Bedarf ist riesig: In den Großstädten steigen die Parkgebühren drastisch. Alleine New York hat seit 2010 jeden sechsten Autoparkplatz in der Innenstadt abgeschafft. "Bei Neubauprojekten gilt bei uns die Regel "Vorfahrt für Fußgänger", die Gehsteige müssen jetzt ausgebaut werden", erklärt Alexandros Washburn, Chefplaner der New Yorker Stadtverwaltung.

Eines ist sicher: Auch in amerikanischen Städten bekommen Fußgänger und Radfahrer immer mehr Platz, während Autoparkplätze zunehmend verschwinden. Autos über spezielle Angebote wie "Zipcar" zu teilen, kommt auch in den USA immer mehr in Mode. Private Chauffeur-Services wie beispielsweise "Uber" sind beliebt wie nie zuvor.

Auch die Konkurrenz setzt auf das überlebensnotwendige Städtethema: Der Münchener Autokonzern BMW hat zusammen mit der Solomon R. Guggenheim Foundation das "Urban Lab", ein mobiles Diskussionsforum zum Thema Stadt der Zukunft, bereits 2011 auf Weltreise geschickt. Anfang dieses Jahres machte die Initiative Halt im indischen Mumbai, nachdem sie in Berlin von Kapitalismus-Kritikern öffentlich angefeindet worden war.

Vor drei Jahren reiste die Wanderbühne "Smart Urban Stage" durch Europas Hauptstädte und sammelte im Namen der Daimler-Kleinwagen-Tochter Smart kreative Ideen für städtisches Leben. Auch Siemens hat den "Megacities" ein eigenes Forschungsprojekt gewidmet. Und der amerikanische IT-Konzern IBM propagiert seit mehreren Jahren ein vernetztes Leben in Großstädten: Rund 3000 Pilotprojekte betreibt das Unternehmen unter dem Motto "Smarter Cities" und kümmert sich beispielsweise um einen besseren Verkehrsfluss. Vor kurzem hat der US-Konzern in Köln einen Test zur Stauvorhersage abgeschlossen. Im vergangenen Jahr widmete sich sogar eine eigene Konferenz des deutschen Medienkonzerns Burda in London neuen urbanen Konzepten verschiedener Unternehmer und Designer.

Labor für Neues

"Die Stadt ist ein Labor für Neues", sagt Christian Gärtner, Vorstand der Design-Agentur Stylepark und Kurator des Stadtplanungswettbewerbs. "Erst, wenn wir die neuen Ideen testen, werden wir sehen, ob und wie sie funktionieren." Es sei deshalb wichtig, dass sich Unternehmen dieser Ideen annehmen und sie weiterentwickeln. Wie gut solche Tests unter realen Bedingungen funktionieren können, belegt aktuell der Siegeszug von Bike- und Carsharing rund um den Globus.

Rad oder Auto sind in diesen Modellen kein Eigentum, sondern Gemeinschaftsgut, nutzbar gegen Bezahlung. Auch flexible Mietservices, bei denen Fahrzeuge vom Straßenrand weg über Smartphone-Anwendungen gebucht werden können, wachsen rasant. In Deutschland bietet eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn schon seit Jahren in Großstädten Fahrräder zur flexiblen Miete an. Seit Mai gibt es ein ähnliches System auch in New Yorks Innenstadt. "CitiBike" soll besonders die Berufspendler schneller von den Bahnhöfen bis zu ihren Büros bringen. Umweltfreundlich und ohne Stau. Ausgerechnet in New York gehen bereits zehn Prozent der Berufstätigen zu Fuß zur Arbeit - so viel wie in keiner anderen großen amerikanischen Metropole. Eine wachsende Zahl von Pendlern ist bereits vom Fahrzeug auf das Fahrrad umgestiegen, hat eine neue Studie der New Yorker Verkehrsbetriebe herausgefunden. Die Veränderung der Mobilität ist bereits - buchstäblich - in vollem Gange.

Petra Schäfer, geboren 1975, ist Absolventin der Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft und lebt als freie Wirtschaftsjournalistin (u.a. für "Zeit", "Handelsblatt") in Köln.