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Die Zukunft der "Wiener Zeitung" - geht es nicht um mehr?

Von Otto Petrovic

Otto Petrovic ist Wirtschaftsprofessor an der Universität Graz. Er hat selbst drei Firmen gegründet, unterstützt Unternehmen und öffentliche Institutionen bei der digitalen Transformation und war Mitglied der Telekom-Control-Kommission der Republik Österreich.
© privat

Die demokratiepolitisch notwendige Entwicklung von Medienkompetenz gewinnt an Bedeutung.


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Seit dem Bekanntwerden der Regierungsvorlage zur Einstellung der gedruckten Ausgabe der "Wiener Zeitung" erschienen zahlreiche sehr differenziert argumentierende Kommentare zu dieser demokratie-, wirtschafts- und bildungspolitisch so wichtigen Frage. Ich möchte gleich vorausschicken, dass ich mich den meisten Argumenten anschließe. Sei es nun die hohe Internationalität der Beiträge, die geringere Abhängigkeit vom Werbemarkt, der nicht nur behauptete, sondern auch umgesetzte Qualitätsanspruch und die so gar nicht boulevardeske Ausrichtung. Auch dem Argument einer inhaltlichen und zeitlichen Abgeschlossenheit durch ein Erscheinungsdatum und einen begrenzten Umfang, der nicht durch Hyperlinks ins Netzuniversum gegen unendlich geht, ist einiges abzugewinnen.

Doch einen Punkt sehe ich gänzlich anders: dies alles als Argumente für den Beibehalt der Printausgabe anzusehen. Das Übertragungsmedium ist wohl nur dann die Botschaft, wenn man die Auffassung vertritt, Inhalte sind wahrer, hochwertiger, verlässlicher, wenn sie auf Papier stehen. Gerade die Ereignisse im Österreich der jüngsten Vergangenheit können zum Überdenken dieser Sichtweise ermuntern. Ist die Middle-East-Berichterstattung von Aljazeera.com oder jene über die US-Midterms der "New York Times" auf nytimes.com so viel schlechter als die Geschichten darüber auf dem Papier der Wiener U-Bahn-Zeitungen?

Ja, im digitalen Universum sind mehr Fake News, einseitige Perspektiven, verzerrte Betrachtungsweisen zu finden als im Printsektor. Aber auch mehr von genau dem Gegenteil und vor allem: viel mehr Möglichkeiten, all dies auch selbständig zu identifizieren. Was bleibt, ist die Frage, wie man mit Leserinnen und Lesern umgeht, die Papier als Übertragungsmedium einfach lieber haben. Aber diese Frage ist eine ganz andere.

Mündige Deutungshoheit

Es geht wohl um mehr. Soll es in Österreich weiterhin eine Tageszeitung geben, die obige Qualitätskriterien erfüllt, die wohl kaum mit einer Abhängigkeit vom Werbemarkt und massenhafter Nachfrage am Lesermarkt vereinbar sind? Neben den bekannten Argumenten für öffentlich-rechtliche Medien, auch auf Basis des Marktversagens, zeigt sich etwas, das in der Welt des Digitalen stark an Bedeutung gewinnt: die demokratiepolitisch notwendige Entwicklung von Medienkompetenz.

Gerade durch das stark gestiegene Medienangebot in der Welt des Digitalen, seien es Soziale Medien oder die minütlich aktualisierenden digitalen Inhalte traditioneller Medien, ist ein Mechanismus zur Komplexitätsreduktion notwendig. Dieser kann Boulevardisierung heißen. Noch so komplexe Fragen werden klar und einfach beantwortet und spannend in einem Aufmacher dargestellt.

Zwangsläufig ist eine einfache Antwort auf eine komplexe Fragestellung allerdings immer falsch. Auch kann die Komplexitätsreduktion von der Leserin, dem Leser delegiert werden. An eine Chefredakteurin, einen Chef vom Dienst samt Blattlinie. Er wählt aus, erklärt, bewertet. In Sozialen Medien wird eine solche Blattlinie und konsequente Ausrichtung an der gerade aktuellen Nachfrage als Blase bezeichnet.

Die "Wiener Zeitung" geht einen anderen Weg. Ihre Blattline, ihre Blase ist, dass sie keine hat. Sie lässt ein breites Spektrum an Themen, Perspektiven und Bewertungen zu, solange sie innerhalb des demokratisch legitimierten Spektrums liegen. Das eigene Bild kann sich die Leserin, der Leser selbst machen. Er bekommt seine mündige Deutungshoheit zurück und erhöht dadurch täglich seine in der Welt des Digitalen so dringend notwendige Medienkompetenz.

Geht die Frage um die Zukunft der Wiener Zeitung nicht weit über "Print ja oder nein" hinaus? Vielleicht sollte viel mehr gefragt werden, ob Österreich ein Medium mit dieser inhaltlichen Qualität benötigt und welche Rahmenbedingungen notwendig sind, um das fortzusetzen, was die "Wiener Zeitung" bereits heute leistet. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört aus knöchern-ökonomischer Sicht wohl auch das bisherige Budget, abzüglich der nicht mehr anfallenden Druckkosten.