Ein Gespräch mit dem Generaldirektor des Internationalen Roten Kreuzes, Yves Daccord.
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Der Krieg hat sich verändert, findet der Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Als einen Grund dafür sieht er vor allem Verhaltensänderungen der Menschen durch den rasanten technologischen Fortschritt, eines der Hauptthemen beim dritten Humanitären Kongress Wien.
"Wiener Zeitung":Wie beeinflusst technologischer Fortschritt die Arbeit von humanitären Organisationen?Yves Daccord: Technologie verändert das Benehmen von uns allen, nicht im humanitären Bereich. Wenn man heute nach Somalia fährt, bemerkt man gleich, wie entscheidend etwa mobiler Geldtransfer für die Menschen ist. Sie gehen ganz anders mit ihren Ressourcen um. Gleichzeitig nutzen die Leute ihre Mobiltelefone, um zu vergleichen. Sie erhalten einen Service von uns und fragen: Wieso macht
ihr das hier nicht so wie in einem anderen Land? Wieso waren
die Zelte dort größer? Sie verwenden es wie eine Art Reiseführer.
Wie hilft das dem Roten Kreuz?
Wenn wir etwa nach vermissten Personen suchen, haben wir heute teilweise die Möglichkeit, das in Echtzeit auf unseren Mobiltelefonen zu machen. Das macht einen verdammt großen Unterschied. Wenn es um den Schutz von Menschen geht, machen wir zwar normalerweise alles persönlich, aber manchmal sind wir schon sehr froh, wenn wir ein Satellitenbild haben.
Stimmt es, dass die militante Islamistengruppe Al-Shabaab in Somalia enorm Twitter-affin ist?
Ja! Man könnte fast sagen, dass IKRK Twitter wegen Al-Shabaab für sich entdeckt hat. Die verwenden Twitter seit mindestens vier Jahren. Wir wurden öfter von ihnen auf Twitter attackiert und hatten keine Wahl, als zu antworten. Ein Beispiel ist, dass sie ein Foto von etwas posten, das angeblich ein IKRK-Konvoi ist, und kritisieren, dass dieser sich falsch verhalten hat. Deshalb mussten wir das auch auf Twitter richtigstellen. Plötzlich findet man sich also in diesen sehr offenen Diskussionen mit Gruppen wie Al-Shabaab.
Es gab in letzter Zeit wieder einige gewalttätige Angriffe auf Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die auch auf Fehlinformation der lokalen Bevölkerung zurückzuführen sind. Nutzt das IKRK all diese Kommunikationsmöglichkeiten zu wenig, um so etwas zu verhindern?
Es geht nicht nur darum, zu erklären, was man in einem Land tut, sondern darum, zu verstehen, welche Wahrnehmungsprobleme es gibt und wie man sie am besten adressieren kann. Mit den Ebola-Gebieten gab es das Problem der Totenaufbewahrung. Wenn die Leute sterben, kann man den Körper nicht der Familie zurückgeben, weil noch mindestens 14 Tage Ansteckungsgefahr besteht. Aber in einer Gesellschaft wie der liberischen ist es absolut unerhört, den Körper eines Verstorbenen nicht zurückzubekommen. Da kann man dann kommunizieren was man will, die Leute interessiert das nicht. Die meisten Attacken auf unsere Mitarbeiter hatten eher damit zu tun, dass die humanitäre Perspektive in einem Chaos aus anderen Dingen untergegangen ist und es Wahrnehmungsprobleme gab.
Technologie verändert auch die Art der Kriegsführung...
Auf jeden Fall. Kriegsführung entwickelt sich gemeinsam mit der Gesellschaft weiter, ob wir wollen oder nicht. Das Neue in der Kriegsführung ist jetzt Distanz. Man kann von weit weg den Feind attackieren. Zwar ging das immer schon per Flugzeug, doch war das eben sehr offensichtlich. Jetzt kann man das mit Drohnen machen oder mit Cyberkrieg, ohne Bodensoldaten schicken zu müssen. Das wirft ein paar interessante Fragen über Verantwortung auf. Wer ist verantwortlich, wenn es um Drohnen geht? Der, der den Knopf drückt, der sie gebaut hat, oder der, der den Befehl gegeben hat? Eine Aufgabe des IKRK ist es, dabei zu helfen, das internationale Recht diesbezüglich weiterzuentwickeln.
Um welche Aspekte geht es dabei zum Beispiel?
Die Genfer Konventionen sagen klar, dass man zwischen militärischen und zivilen Objekten zu unterscheiden hat. Aber wie soll das gehen in Zeiten von Cyberkrieg? Wie kann jemand, der einen Computervirus sendet, um ein Stromnetz stillzulegen sicher sein, dass keine Spitäler davon betroffen sind? Wie kann man sichergehen, dass die Zivilbevölkerung nicht von einem Angriff betroffen ist? Wie definiert man überhaupt Schaden an der Zivilbevölkerung? Für herkömmliche Kriegsformen gibt es im internationalen Recht genaue Definitionen dafür. Bei Cyberkrieg ist das sehr viel schwieriger.
Wie wird der Krieg der Zukunft aussehen?
Ich glaube, wir werden drei Typen von Krieg sehen. Erstens den, den wir schon kennen, zwischen verschiedenen Gruppen auf einem bestimmten Territorium, wie etwa im Kongo. Das ist ein Konflikt, von dem ich glaube, dass er uns die nächsten 30 bis 40 Jahre begleiten wird. Dann werden wir eine komplett neue Art von Krieg sehen, wie das jetzt in Pakistan, Jemen und Teilen von Afghanistan und Syrien passiert. Drohnen und Spezialeinheiten, die versuchen spezielle Ziele zu treffen, aber mit limitiertem Truppeneinsatz und massivem Technologieaufgebot. Drittens werden wir wieder internationale Konflikte um Ressourcen und Territorium sehen. Gleichzeitig glaube ich, dass mehr explosive Waffen in urbanen und stark bevölkerten Gebieten zum Einsatz kommen werden. Ich hoffe, dass ich mich irre.
Verändert sich mit Drohnen und Cyberkrieg auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Kriegen?
Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Meine Erfahrung ist, dass die Gesellschaft von zwei verschiedenen Aspekten beeinflusst wird. Einer ist, dass sich die Wahrnehmung, die eine Gesellschaft vom Krieg hat dramatisch verändert, wenn sie sich wirklich im Kriegszustand befindet. Sie wird aggressiver und ist nicht mehr bereit zuzuhören. Sehen Sie nur, was gerade mit Russland und der Ukraine passiert. Man spürt ein starkes "Wir haben recht und ihr unrecht". Das andere Element ist, dass die Menschen es immer schwieriger finden, zu wissen, wann etwas Krieg ist und wann es um Sicherheit geht. Was jetzt gerade mit dem Islamischen Staat (IS) passiert, ist das ein Krieg oder ein Sicherheitsproblem? Man ist sich nicht mehr sicher, was einen Krieg ausmacht.
Wir hören täglich von Syrien und dem Irak, aber die Krise in der Zentralafrikanischen Republik etwa ist relativ unbemerkt geblieben. Gibt es so etwas wie Branding bei Kriegen?
Ja natürlich. Wir alle spielen darin eine Rolle. Ich vertrete aber vehement die Ansicht, dass es so etwas wie eine "vergessene Krise" nicht gibt, zumindest nicht für die Leute, die täglich in ihr leben. Man kann immer punktuelles Interesse für eine Krise generieren. Die Frage ist, ob man dieses Interesse aufrechterhalten kann. Die österreichische Öffentlichkeit etwa interessiert sich vielleicht für die Details, für das Leiden der Menschen und die Aktivitäten des Roten Kreuzes. Aber wir sprechen da vielleicht von einem Tag im Monat, an dem das aufkommt. Mit Syrien ist es anders, weil die Leute sich selbst davon beeinflusst fühlen. Österreich nimmt Flüchtlinge auf, viele, wenn nicht alle kommen aus Syrien.
Was im Krieg erlaubt ist und was nicht, ist theoretisch im internationalen (humanitären) Recht geregelt. Die Situation in Syrien und im Irak ist aber völlig außer Kontrolle. Spielt internationales Recht da überhaupt noch eine Rolle?
Ich würde es umgekehrt sagen. Je schwieriger die Situation ist, je mehr Spannungen, Gewalt und Kriminalität es gibt, desto wichtiger ist das Rech, weil es eine gemeinsamer Bezugspunkt ist. Es hilft uns, zu verstehen was das Problem ist und welches Ausmaß es hat. Wenn Chinesen, Russen und auch Österreicher dasselbe Verständnis des Problems haben, wenn auch nicht in allen Punkten, dann hilft das. Das Recht ist auch eine gemeinsame Sprache, das sollten wir nie vergessen.
Werden die gegenwärtigen Konflikte die Entwicklung des internationalen Rechts beeinflussen?
Daran habe ich keinen Zweifel. Die Leute werden merken, dass es nicht funktioniert und etwas getan werden muss. Ich glaube nicht, dass es völlig neues Recht geben wird und es wird Zeit brauchen, aber ich glaube über die nächsten Jahre werden sich neue Mechanismen für die Implementierung herausbilden. Die Tradition, dass Staaten sich zu etwas verpflichten und dann passiert aber nichts, reicht nicht. Gesetzesübertretungen machen uns manchmal verzweifelt, aber sie sind auch eine Chance, über die Zeit etwas zu verändern. Ich bin nicht naiv, ich weiß das wird dauern, aber manchmal ist ein Schock der Grund dafür, dass eine neue Dynamik entsteht.
Können Sie als humanitäre Organisation in einem Konflikt wie mit dem Islamischen Staat überhaupt noch neutral sein?
Warum nicht? In einer sehr polarisierten Welt sind unsere Neutralität und unsere Unparteilichkeit absolut entscheidende Prinzipien. Wir sagen das nicht nur, um es zu sagen. Wir nutzen es, um die Nähe der Menschen zu suchen und den verwundbarsten und schutzlosesten Hilfe anzubieten, darauf bestehe ich. Die Leute vergessen, dass militante Gruppierungen, wie der IS, aber auch andere Gruppen Millionen von Menschen kontrollieren, die humanitäre Bedürfnisse haben. Deshalb müssen wir in der Lage sein, zu kommunizieren und Lösungen zu finden und den Schutzlosen zu helfen. Dafür ist es absolut entscheidend, demonstrieren zu können, dass man neutral ist, denn alle sehen zu. Alle sehen immer zu.
Yves Daccord ist Generaldirektor des Internationalen Roten Kreuzes.
Zuletzt hat die Hilfsorganisation Kontakt zum IS aufgenommen, um
effektiver helfen zu können.