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Die Zukunft des Zusammenrückens

Von Wolfgang Pauser

Reflexionen

Klimaerwärmung und Zuwanderung machen die Städte dichter und enger. - Visionen für den komprimierten urbanen Raum.


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Wie viel Raum steht einem Menschen zu? Diese Frage ist unerhört. Wer sollte das Recht haben, sie zu entscheiden, und nach welchen Kriterien? Reichtum und Macht oder Bedürftigkeit und Ohnmacht? Sollte jeder Mensch gleich viel Raum beanspruchen dürfen oder sollte in Zukunft künstliche Intelligenz temporäre Raumnutzungen funktionsoptimiert zuteilen?<p>

Zonen der Verdichtung

<p>Städte sind heute steigendem Zuwanderungsdruck ausgesetzt. Landflüchtige wie Kriegsflüchtlinge zieht es in die Metropolen. So wird Stadtraum zu einem knappen Gut. Jetzt schon lebt etwa die Hälfte der Menschen in Städten. Diese sind Zonen der Verdichtung. Es ist die Verdichtung selbst, die attraktiv wirkt und den Sog erzeugt. Eine Stadt lässt sich als Menschen anziehendes System beschreiben, das seinen eigenen Raum definiert und damit innere Enge produziert. Offen bleibt die Frage, wie dicht es in der Stadt der Zukunft werden soll. Und für wen es mehr oder weniger eng wird.<p>Zwei Themen bestimmen die Debatte um Stadtraum und Wohnraum. Neben der Zuwanderung motiviert die Klimaerwärmung Stadtplaner zur Politik des Nachverdichtens. Dabei war die Ökobewegung ursprünglich getragen von Städtern, die Sehnsucht nach ländlicher Natur verspürten und gerne zum Schafezüchten ins Waldviertel gezogen wären.

Vision von Park und Hochhaus in New York: "Stairscraper" der Architektengruppe Nabito.
© Nabito

<p>Diese antiurbane Gesinnung wandelte sich jedoch, als im Begründungsdiskurs der Begriff Umweltschutz durch den Begriff Klimakatastrophe ersetzt wurde. Die Verwissenschaftlichung der grünen Argumentation führte zu Gesamtbilanzierungen, die den schlanken Fußabdruck als neues Zielbild durchsetzten.<p>Entgegen dem Mythenbild heiler Natur erkannte man, dass bei rationaler Betrachtung das Landleben mehr Energie und Ressourcen verbraucht als das Leben in der Stadt. Vor allem dann, wenn das städtische Leben von der Kommunalpolitik ökologisiert wird. Weil die Klimaziele besser erreicht werden können, wenn möglichst viele Menschen in Städten wohnen, wird urbanes Nachverdichten zum neuen ökologischen Imperativ. Zugleich gibt es - wie zum Trost aller Menschen mit Natursehnsucht - eine neue Tendenz, den traditionellen Gegensatz zwischen Stadt und Land abzumildern.<p>Die Vision einer grünen Stadt gilt weithin als politisches Ziel. Der Individualverkehr soll vermindert und verlangsamt werden, Elektroautos sollen bessere Luft und Stille verbreiten, der Energieverbrauch von Gebäuden soll mit großem technischem und finanziellem Aufwand drastisch gesenkt werden.<p>Neben dieser energie- und verkehrstechnischen Vergrünung der Städte gibt es auch sinnliche und sinnbildliche Begrünung durch Pflanzen. Sogar der Anbau von Lebensmitteln soll sich in die Stadt verlagern. Gemüsebeete in Parks, auf Flachdächern und Balkonen sollen die Sehnsucht grüngesinnter Stadtbürger nach dem Landleben stillen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Denn wer es heute mit der Ökologie ernst nimmt, zieht nicht mehr aufs Land, sondern in die Stadt.<p>

Neue Nutzpflanzen

<p>Urban Gardening bringt andere Pflanzen in die Stadt. Schon bisher gab es in Städten Bäume, Blumenbeete und Rasen. Nun kommen Nutzpflanzen hinzu. Urbanität als Kulturphänomen gab sich bisher in der Bepflanzung dadurch zu erkennen, dass nur Zierpflanzen zur Stadtdekoration gewählt wurden. Nutzpflanzen waren ausgeschlossen, da sie die ländliche Agrarkultur verkörperten. Ein Apfelbaum bringt daher nicht nur Äpfel in die Stadt, er funktioniert zugleich als kulturelles Signal, das gegen die bisherige Auffassung von Urbanität gerichtet ist.<p>Parallel zur ökologisch motivierten Aufwertung städtischer Verdichtung gibt es die entsprechende Entwertung der "Zersiedelung" von Landschaft durch verstreute Einfamilienhäuser. Neben den verkehrs- und energietechnischen Argumenten gegen Pendler und Wochenendhaus-Besitzer tritt hier ein ästhetisches Argument. Wer Zersiedelung beklagt, wünscht sich, dass das Land möglichst ländlich bleibt. Ländlich im Sinne einer traditionell agrarisch geprägten Landschaft, die als natürlich gilt, obwohl Wiesen und Wälder bloß eine veraltete Produktionstechnik darstellen.<p>Städte wurden bis vor wenigen Jahrzehnten als kulturelles Gegenprojekt zur Natur und zum Ländlichen betrachtet. Sie wollten möglichst städtisch sein. Heute bemühen sich Städte, möglichst ländlich und naturnah zu sein. Auf dem Lande findet das Gegenteil statt: Das Land wird der Stadt immer ähnlicher. Die Landschaft verstädtert.<p>

Nachverdichten

<p>Neben ökologischen und landschaftsästhetischen Argumenten tritt neuerdings die Zuwanderung als treibende Kraft für den politischen Willen zum Nachverdichten in den Vordergrund. Der Flüchtlingswelle verdanken mancherlei Branchen eine unerwartete Konjunktur. Die Hersteller von Zäunen und Mauern etwa, von Zelten und mobilen Toiletten, von Feldbetten und Fingerabdruck-Scannern, nicht zuletzt von Traglufthallen. Ein in Europa beinahe schon vergessener Bautypus kehrt zurück: die Grenzstation.<p>Die Baubranche freut sich über Aufträge, erst einmal alte Kasernen und leer stehende Hallen in Flüchtlingsquartiere umbauen zu können. In weiterer Folge wird ein neuer Bauboom erwartet. Denn wenn mehr Menschen hier wohnen wollen, muss es mehr Wohnraum geben. Diesen Wohnraum zu planen gibt auch dem Architektenberuf eine neue Perspektive.<p>Die Frage, wo und wie Asylwerber untergebracht werden sollen, spaltet die Bevölkerung. Die rechte Seite wünscht sich Zeltlager, möglichst weit weg, damit abschreckende Bilder erzeugt werden. Die linke Seite wünscht sich Neubauten über die Stadt verstreut. Damit sich keine Ghettos bilden, sondern Integration möglichst rasch gelingen kann, wird räumliche Durchmischung der einheimischen mit der neu zuziehenden Bevölkerung angestrebt. Für die Erreichung dieses Ziels wird sogar über die Enteignung von Leerstand und über zwangsweise Einquartierung diskutiert.<p>Die politische Polarisierung spiegelt sich auch im Gegensatz zwischen Ausgrenzungs- und Integrationsarchitektur. Für die Errichtung des steirischen Schubhaftzentrums Vordernberg wurde ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, dessen Ergebnis sich sehen lassen kann. Dennoch provozierte der Bau eine Kontroverse, nicht nur wegen der Kosten. Die gesellschaftliche Aufgabe von Architektur solle es nicht sein, Abschiebegefängnisse schöner aussehen zu lassen, lautete die Kritik. Die Beschönigung von Schubhaft sei ein Zynismus.<p>Integrative Ziele der Architektur waren im Beitrag Österreichs zur heurigen Architekturbiennale in Venedig das Thema. Unter dem Titel "Orte für Menschen" gab sich die Architektur den sozialen Auftrag, Flüchtlingen "Schutz zu bieten, menschenwürdige Lebensbedingungen und Voraussetzungen für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben zu gestalten". Ziel des "Social Design" ist die Verbesserung der Unterbringung, z.B. durch Raumtrenner und kleine Holzeinbauten in Hallen. Über den moralischen Auftrag hinaus geht die Initiative Raum4Refugees. Sie postuliert, dass neben den technischen Anforderungen auch die gestalterische Qualität großen Einfluss auf die Integrationsfähigkeit der Ankommenden habe. Damit wird die traditionelle Kompetenz der Architektur, über das Funktionale hinaus eine ästhetische Dimen-
sion zu gestalten, mit einer neuen moralischen Funktion legitimiert. Schönheit soll als Mittel zur Erleichterung der Integration funktionieren.<p>

Zu wenige Baulücken

<p>Die Hinwendung der Architektur zu sozialen Themen ist nicht nur von der aktuellen Aufgabenstellung geleitet, sie ist auch Zeichen einer Legitimationskrise des Berufs. Neben der Hoffnung auf Bauaufträge wächst die Sorge. Werden die Kommunen Architekten fürs Bauen heranziehen, wenn der Zeitdruck so groß ist und der politische Druck wächst, für Asylsuchende möglichst wenig Steuergeld auszugeben? Wäre es da für Politiker nicht naheliegend, auf schnelle billige Modulbauweise zu setzen und auf die ästhetischen Qualitäten von Architektur zu verzichten?<p>Die meisten Zuwanderer streben in große Städte. Hier suchen sie Anschluss an bereits niedergelassene Communities ihrer Herkunftskultur, hier hoffen sie auf bessere Gelegenheit, Arbeit zu finden. Doch wo und wie sollen sie wohnen? Ghettos am Stadtrand will man vermeiden, da sich dort Parallelkulturen ausbilden. Auch wildwüchsige Slums sind in Europa unerwünscht. Aus ökologischen, landschaftsschützenden und sozialen Gründen ist simples Flächenwachstum unerwünscht. Wenn immer mehr Leute in der gleich großen Stadt unterzubringen sind, gibt es nur einen Weg: Die Politik des Nachverdichtens erzeugt Druck auf den verfügbaren Raum.<p>Doch so leicht sich das Ziel einer Verdichtung und Vermischung formulieren lässt, so schwer ist es umzusetzen. Es gibt zu wenige Baulücken. Auch die städtischen Grundstücke für Neubauten sind begrenzt. Müssen die Städter enger zusammenrücken, können sie dichter gepackt werden, sollte das Recht auf Raum eingeschränkt werden? Wie viel Raum steht einem Menschen noch zu?<p>Diese Problemstellung findet unterschiedliche Antworten. Kleinere Wohnungsgrößen etwa. Die steigenden Preise für Wohnraum führen zur Nachfrage nach kleineren Einheiten. Dieser Trend spiegelt sich auch im Möbeldesign. Klappmöbel sind der letzte Schrei. Es werden immer raffiniertere Lösungen entwickelt für Betten, Tische, Bänke, Küchen und Bäder, die in der Wand verschwinden können. Die Werbebilder solcher Einraum-Wohnlösungen zeigen eine verblüffende Geräumigkeit, ihre Ästhetik nimmt sich fernöstliches Design zum Vorbild. Blickt man ins reale Hongkong, zeigt die minimale Behausung keinerlei Ähnlichkeit zu minimalistischem Lifestyle. Hunderttausende Familien haben nur ein paar Quadratmeter zum Leben. Sie werden Käfigmenschen genannt oder auch menschliche Batteriehühner. In einer der reichsten Städte der Welt fehlt Raum so sehr wie sozialer Ausgleich.<p>Ein anderer Ansatz wäre, nicht kleinere, sondern billigere Wohnungen zu bauen. Dem steht die Bauordnung entgegen. Diese hat sich in Zeiten wachsenden Wohlstands entwickelt. Entsprechend sind die Standards der Wärmedämmung, Schallisolierung, Brandvermeidung und Behindertengerechtigkeit gestiegen. Nun sind sie Gesetz. Viele der vorgeschriebenen Erfordernisse sind nicht aus Konsumentenwünschen abgeleitet, sondern im Zusammenspiel von Lobbyismus und Sicherheitspolitik entstanden. Angesichts der Zuwanderung stehen die Kommunen nun vor einem Dilemma. Teuer bauen können sie nicht, billig bauen dürfen sie nicht.<p>Manche Architekten suchen nun nach der billigsten erlaubten Wohnform, andere hoffen, die Einwanderung könnte helfen, den Wald der Vorschriften wieder zu lichten und die Standards zu senken. Das würde ihnen die verlorenen Gestaltungsspielräume zurückgeben. Billiger Wohnen könnte sogar zum Schöner Wohnen führen.<p>Eine andere Hoffnung gilt neuer Kooperation mit dem Städtebau. Öffentlicher Raum soll die Schrumpfung des Wohnraums kompensieren. Wie im Süden soll sich das Leben auf die Straßen und Plätze verlagern. In Parkanlagen könnte man grillen und Geburtstage feiern. Ein Mehr an öffentlichem Raum wäre dafür vonnöten. Die entgegengesetzte Vi- sion sieht so aus, dass mit wachsendem Raumdruck die öffentlichen Flächen ihre Legitimation verlieren. Wenn man sich ein Szenario vorstellt, in dem die Straßen mit Obdachlosen gefüllt sind, wäre es naheliegend, Parks durch Hochhäuser zu ersetzen.<p>

Gemeinschaftsräume

<p>Auch innerhalb von Wohnbauten und -anlagen käme man mit schrumpfenden Grundrissen besser zurecht, wenn man Funktionen auslagern könnte. Wie zuletzt in den 1970er Jahren werden nun wieder Gemeinschaftsräume geplant: Co-Working-Spaces, Kinderspielzimmer, Hobby- und Wellnessräume könnten den Raumdruck mildern. Doch wie weit soll das gehen? Sind die Gemeinschaftsküche mit Speisesaal, das Gemeinschaftsbad wie in alten Hotels oder das Gangklo die Zukunft des städtischen Wohnens? Brauchen wir die japanischen Love-Hotels bald auch in Wien?<p>Für manche Menschen sind das paranoide Horrorfantasien. Für andere zumindest teilweise positive Visionen einer Gesellschaft, die näher zusammen rückt, die den Individualismus, die Konkurrenz und den Egoismus überwindet, die solidarische Gemeinschaften bildet und alles miteinander teilt.<p>Der Begriff des Miteinander-Teilens hat eine neue Bedeutung, seit Sharing-Plattformen im Internet gemeinsame Nutzungen auf einfache Weise organisierbar machen. Mit dem Fahrtendienst Uber teilt man Autos, mit Airbnb vermietet man kurzfristig Zimmer. In Zukunft müssten weniger Fahrzeuge gekauft werden, weil die vorhandenen nicht mehr auf Parkplätzen stehen, sondern permanent in Verwendung sind. Auch für die Nutzung des knapper werdenden Wohnraums in der Stadt eröffnet die Sharing-Technologie neue Perspektiven.<p>Die marxistische Hoffnung auf Abschaffung des Privateigentums könnte schon bald auf scheinbar unpolitische Weise, per App, Wirklichkeit werden. In den Visionen der Automobilindustrie sind in der "Smart City" nur noch Roboterautos unterwegs. Der lenkende Mensch wird dann zum intolerablen Sicherheitsrisiko. In einer voll entwickelten Sharing-Culture wäre sogar die Pflicht zu intensiver Wohnraumnutzung administrierbar. Leerstehende Räume würden der Zwangseinquartierung zugeführt.<p>

Gated Communities

<p>Die Vision einer von moralischen und sozialpolitischen Ideen geleiteten, von künstlicher Intelligenz administrierten unfreiwilligen Sharing-Culture setzt einen starken Staat voraus. In die entgegengesetzte Richtung könnte weiteres Erstarken der Finanzwirtschaft führen. Dann stünde nicht Teilen, sondern Trennen auf dem Programm. Döbling und Hietzing würden zu Gated Communities, ummauert und von privaten Sicherheitsdiensten bewacht. Mittelschicht gäbe es keine mehr, der Rest von Wien wird zum verrotteten Slum für die einheimischen und zugezogenen Abgehängten.<p>Städte bedecken nur zwei Prozent der Erdoberfläche. Wie kann es da sein, dass wir eine Zukunft vorbereiten müssen, in der es immer enger wird? Vielleicht ist das nur eine paranoide Fantasie, eine kulturelle Stimmung, eine Ideologie? Ist nicht die Debatte um die Raumverteilung nur eine Projektion der Geldverteilung in die dritte Dimension?<p>Wie viel Raum steht einem Menschen zu? Mehr, hätte man noch vor kurzem gesagt. Doch die europäische Kultur hat den Verzicht auf ihre Fahnen geschrieben. Das Recht des Menschen auf den Verbrauch von Ressourcen stellt sie prinzipiell in Frage. Das konsumistische Streben nach mehr hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wir wollen weniger. Weniger heizen, reisen, Fleisch essen, Auto fahren und unmoralisch sein. Vor allem aber wollen wir weniger dürfen. Die Frage nach dem Raumbedarf steht in diesem Kontext. Wir wollen es enger, lautet die Antwort unserer Zeit.<p>Vielleicht handelt es sich bei dieser Antwort um eine moralische Evolution. Vielleicht handelt es sich um dekadenten Überdruss. Vielleicht leisten wir auch nur eine vorauseilende Anpassung an die erwartete Enteignung. Wissen werden wir das in frühestens 50 Jahren.

Wolfgang Pauser, geboren 1959 in Wien, studierte Philosophie und Rechtswissenschaften, lebt als freiberuflicher Essayist in Wien. Der Beitrag ist eine Kurzversion des Einführungsvortrags "Luxus für Alle. Prototypen für die grüne Stadt", gehalten am Institut für Hochbau 2 der TU Wien.