Knapp 9000 Menschen kamen bei einem Erdbeben in Nepal vor einem Jahr ums Leben. Politische Auseinandersetzungen und ethnische Unruhen behinderten die Aufbauarbeiten ebenso wie eine Handelsblockade durch das Nachbarland Indien.
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Neu Delhi. Als vor einigen Tagen ein heftiges Unwetter durch das Kathmandu-Tal fegte, hielt Nirmala Shrestha das Dach ihrer kleinen Hütte fest. "Ich hatte Angst, dass der Wind den einziges Schutz zerstört, den wir noch haben", erzählt sie Journalisten in Nepal. Ich habe das Wellblech festgehalten, bis ich fühlte, dass meine Hände auch davongeweht werden." Die 48-Jährige aus Bungamati, zehn Kilometer südlich der Hauptstadt Kathmandu, hat ihr Haus bei dem verheerenden Erdbeben vor einem Jahr verloren. Seither lebt sie in einem rasch zusammengezimmerten Notquartier aus Blechwänden und Holzplanken. Mittellos und ohne Geld von der Regierung, wollte ihre Familie ihr Haus mit alten Steinen und Holz wiederaufbauen, doch die Verwaltung gab ihnen keine Erlaubnis, weil an der Stelle ihres alten Hauses nun eine Straßenerweiterung geplant ist. "Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen. Im ganzen letzten Jahr sind wir alle ständig krank geworden", erzählt Namratas Mann, Devendra.
Das Beben am 25. April 2015 hatte weite Teile des Dorfes dem Erdboden gleichgemacht. Landesweit kamen fast 9000 Menschen ums Leben, mehr als 21.000 wurden verletzt, 3,5 Millionen obdachlos. Das Beben löste auch Eislawinen am Mount Everest, dem höchsten Berg der Welt, aus und tötete 21 Alpinisten. Seit dem Hauptbeben mit einer Stärke von 7,8 auf der Richter-Skala gab es 400 Nachbeben, der Schaden wird auf 10 Milliarden US-Dollar (8,9 Milliarden Euro) geschätzt. Dörfer im Khumbu-Tal, einem beliebten Trekking-Ziel am Fuße des Everest, sind inzwischen wieder aufgebaut worden, doch anderswo, wie in Bungamati, haben die Betroffenen des Erdbebens einen frostigen Winter und die Regenzeit unter kaum mehr als einer dünnen Zeltplane verbracht.
Anlässlich des Jahrestages, der nach nepalesischem Kalender bereits am Sonntag begangen wurde, legte Khadga Prasad Oli an den Ruinen des symbolträchtigen Dharahara-Turms in Kathmandu einen Kranz nieder. Der Turm war schon bei einem katastrophalen Beben im Jahr 1934 eingestürzt, daraufhin erneut errichtet worden und bei dem Erdbeben vor einem Jahr wieder in sich zusammengefallen.
Der einzige Landzugangnach Nepal führt über Indien
Wenig ist seitdem nach Plan gegangen in Nepal: politische Auseinandersetzungen und ethnische Unruhen behinderten die Aufbauarbeiten ebenso wie eine Handelsblockade durch das Nachbarland Indien, die zu Benzin- und Brennstoffmangel, Medikamentenknappheit und dem Fehlen an anderen wichtigen Gütern führten. Dringend benötigtes Material für den Wiederaufbau und die Notversorgung der Erdbebenopfer saß fünf Monate lang an der nepalesischen Grenze in Indien fest, dem einzigen Landzugang, den der isolierte Bergstaat hat.
Wo normalerweise um die 300 Benzin-Tanker pro Tag die Grenze überquerten, ließ Indien nur noch fünf bis zehn Tanklaster passieren, um die Proteste der Madhesi, einer ethnischen Gruppe mit engen Verbindungen zu Indien, zu unterstützen. Weil es an Benzin und Brennstoff fehlte, wurde der Winter für Nepal zur zweiten Katastrophe: Notlager für Obdachlose waren nicht für die Kälte ausgerüstet, Krankenhäusern fehlte der Strom, Schulen wurden geschlossen, weil man die Klassenräume nicht heizen konnte. In der Hauptstadt Kathmandu verkaufte die Regierung Feuerholz, weil es kein Gas zum Kochen gab. Die ohnehin schlechte medizinische Versorgung brach praktisch zusammen. Kinder wurden nicht geimpft, Sauerstoff für Operationen fehlte. Die humanitäre Krise, von der kaum jemand in der Welt Notiz nahm, zog sich über Monate hinweg. Indien beendete seine inoffizielle Blockade an der Grenze erst im Februar. Von den etwa vier Milliarden Euro Finanzhilfen, die die internationale Gemeinschaft zugesagt hatte, hat daher bisher kaum etwas Nepal erreicht.
Mitte Jänner - mehr als neun Monate nach der Katastrophe - startete Premierminister Khadga Prasad Oli die Wiederaufbau-Kampagne mit einem Besuch in Bungamati, wo er feierlich den Masterplan für die Rekonstruktion des Dorfes enthüllte. Seither ist nichts geschehen. Familien hier haben nur die knapp 125 Euro Soforthilfe im letzten Jahr erhalten, doch die zugesagte erste Rate der Wiederaufbau-Unterstützung von insgesamt 1600 Euro pro Familie wurde nur im Dolakha-Distrikt verteilt, weil der Distrikt nahe am Mount Everest liegt und die Regierung den ausländischen Bergsteigern Nepal gern von seiner Schokoladenseite zeigen will. Der kleine Himalaya-Staat im Einflussbereich zwischen den beiden mächtigen Nachbarn Indien und China ist arm an Rohstoffen und Ressourcen, seine Haupteinnahmequelle sind die Überweisungen von Nepalesen, die im Ausland - vor allem in den Golfstaaten - arbeiten, und der Tourismus. Allein in einer kurzen Kletter-Saison am Everest nimmt die nepalesische Wirtschaft um die 10 Millionen Euro von den etwa 300 Bergsteigern ein. Für das Privileg, den höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen, müssen die Alpinisten um die 10.000 Euro pro Person an den nepalesischen Staat zahlen. Doch die Einnahmen durch den Tourismus sind nach dem Erdbeben stark gesunken: Urlauber, Kletterer und Wanderer blieben aus, die Zahl der Touristen fiel 2015 um fast 32 Prozent. Der Mangel an Benzin und Brennstoff machte Reisen durch das Land zudem schwierig. Nun hoffen Reiseveranstalter, Tour-Guides und Sherpas, dass sich die Lage bald normalisiert.