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"Die Zweite Republik ist eine Erfolgsstory"

Von Reinhard Göweil und Brigitte Pechar

Politik
Bundespräsident Fischer über die steigende Komplexität in der Zweiten Republik: "Denken Sie daran, dass wir 1945 ein Drei-Parteien-Parlament hatten und jetzt ein Sechs-Parteien-Parlament."

Warum die große Koalition seit der Gründung der Zweiten Republick vor 70 Jahren so großen Bestand hat.


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"Wiener Zeitung": Am 27. April 1945 erkannte der Oberbefehlshaber der 3. Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchin, die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner an. Sie waren damals sechseinhalb Jahre alt, was sind Ihre persönlichen Erinnerungen an diese Zeit?Heinz Fischer: Ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit, weil man ja als Kind mit sechs Jahren schon viel mitkriegt. Die ängstliche Stimmung, die Bombenangriffe, die Unsicherheit etc. Schon im Sommer 1944 war ich mit meiner Schwester zu einer Cousine meiner Mutter nach Pamhagen "geflüchtet". Meine Mutter hatte gemeint: "Ihr seid bei der Tante Sali sichererer als in Wien." Und dann, als die Front immer näher kam, sind wir mit meiner Mutter nach Loich an der Pielach zu einer verwitweten Bäuerin. Es gab oft Fliegeralarm, wir haben ganze Bombengeschwader von West nach Ost fliegen gesehen; wir haben Transporte von Häftlingen entlang der Landstraße beobachtet; wir haben den Rückzug von SS-Truppen erlebt, die dann, als ihnen der Treibstoff ausgegangen ist, ihre Lkw in die Luft gesprengt haben; wir haben weggeworfene Uniformen gefunden; wir haben dann den Einmarsch der russischen Soldaten erlebt. Das sind meine Erinnerungen. Über den 27. April in Wien haben wir nichts gewusst, weil es zu diesem Zeitpunkt keine Kommunikationsmöglichkeiten gab.

Ihr Vater, Rudolf Fischer, war von 1954 bis 1956 Staatssekretär im Handelsministerium in der Regierung Raab/Schärf. Wo war er in diesen letzten Kriegstagen.

Mein Vater, der 1938 seine Anstellung in Graz verloren hatte und bei seiner Schwester in "Untermiete" gewohnt hat, sollte zum Volkssturm eingezogen werden und hat sich in den Untergrund begeben.

Bundespräsident Heinz Fischer im Interview. Das Gemälde zeigt die Aufführung von Christoph Willibald Glucks Oper "Il Parnasso confuso". Gemalt wurde es vom Hofmaler Johann Franz Greippel (1720-1798).

In der "Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs" vom 27. April 1945 wird ausführlich beschrieben, dass Österreich durch eine militärische Bedrohung von außen und hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit aus dem Inland besetzt worden sei. Außerdem wird die Moskauer Deklaration bemüht, in der die Außenminister der Alliierten schon 1943 den Anschluss Österreichs für null und nichtig erklärt haben. Erklärt sich dadurch die lange vermiedene Auseinandersetzung mit dem Handeln Österreichs vor und der Österreicher unter der NS-Herrschaft?

Die Proklamation vom 27. April 1945 besteht aus zwei Teilen: erstens aus der Unabhängigkeitserklärung über die Wiederherstellung eines selbständigen, demokratischen Österreich, über die Aufkündigung des Anschlusses an Hitler-Deutschland und der Anordnung, dass die Eide der Soldaten und der Beamten auf das Dritte Reich als aufgelöst gelten. Zweitens aus einer Präambel, die als Begründung zu verstehen ist. Und in dieser Präambel wird die Moskauer Deklaration aufgegriffen, vor allem der Satz, dass Österreich das "erste Opfer Hitlers" war. Dieser Hinweis auf die Moskauer Deklaration war natürlich in der damaligen Zeit geradezu Goldes wert, um sich vom Aggressor Hitler-Deutschland abzugrenzen und zu sagen: Hitler-Deutschland war an allem schuld und Österreich war das arme Opfer. Mit dieser - sagen wir vorsichtig - nicht die volle historische Wahrheit wiedergebenden Formulierung haben auch die alliierten Mächte schon 1943 operiert, um den Österreichern einen Anreiz zu geben, sich von Hitler-Deutschland loszusagen und wirksame Widerstandsmaßnahmen zu setzen. Man hat gesagt: Wenn ihr dieser Rolle als Opfer Hitlers gerecht werdet, wird euch das nach einem Friedensschluss hilfreich sein. Es war also die interessante Situation, dass die alliierten Mächte schon 1943 und die neu gegründete Republik Österreich 1945 ein paralleles Anliegen hatten: Österreich als unschuldiges Opfer einer Hitler’schen Aggression darzustellen. Und auch die Nationalsozialisten haben nach 1945 großes Interesse gehabt, ihre Rolle als Täter zu verkleinern, sich in den Chor der Opfer einzureihen. Weil es ein so vielfältiges Interesse gegeben hat, Österreich als unschuldiges Opfer darzustellen und die Rolle des Täters auszublenden, ist diese Opferthese auch so langlebig gewesen und war so stark im Bewusstsein der Nachkriegsgeneration verankert.

Je genauer man sich aber die Fakten angesehen hat und je objektiver man die historischen Fakten beurteilt hat, umso mehr hat man gesehen, dass Österreich - rein militärisch gesehen - tatsächlich Opfer einer Aggression war und dass es in der österreichischen Bevölkerung tatsächlich zahlreiche Opfer gegeben hat, die verfolgt wurden, die als Juden oder als Hitler-Gegner in die KZ geschickt wurden. Aber dass es gleichzeitig leider auch eine riesige Begeisterung für Hitler und leider auch sehr, sehr viele Täter gegeben hat, die, noch ehe der erste deutsche Soldat seinen Fuß auf österreichischen Boden gesetzt hat, schon die Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern gehängt haben, die schon seit Monaten am Innenaufschlag ihres Sakkos die Abzeichen als NSDAP-Mitglieder gehabt haben, die sich reihenweise ab 1938 als illegale Nationalsozialisten deklariert haben und die leider auch an Kriegsverbrechen, an Verbrechen gegen Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle etc. einen nicht unbeträchtlichen Anteil hatten.

Heute sehen wir das alles viel klarer als in den ersten Jahren
oder Jahrzehnten der Zweiten Republik.

Faksimile des originalen Bundesgesetzblattes

Wo würden Sie die innenpolitische Verantwortlichkeit von SPÖ und ÖVP sehen?

Das ist, wie wenn man als Archäologe in der Geschichte von Troja gräbt und die verschiedenen historischen Schichten freilegt. So kann man auch in der jüngeren Geschichte graben und Schichten freilegen. Dass es 1938 und auch noch 1939 oder 1940 eine riesige Begeisterungswelle in Österreich für den Nationalsozialismus gegeben hat, kann niemand bestreiten. Mit dem Fortschreiten des Krieges, mit der Tatsache, dass immer häufiger Mütter und Väter die Nachricht bekommen haben, dass ihr Sohn den "Heldentod" gestorben ist, mit der Knappheit der Ressourcen, mit den ersten Bombenangriffen auf die großen Städte etc. hat die Begeisterung für den Nationalsozialismus deutlich abgenommen, aber noch immer hat eine Mehrheit der Bevölkerung gesagt: "Hoffentlich gewinnen wir den Krieg - und nicht die bösen Bolschewiken oder die kulturlosen Amerikaner." Je mehr das Kriegsende sich genähert hat, umso mehr hat es eine Aufspaltung gegeben zwischen denen, die noch immer auf einen "Endsieg", und jenen, die auf ein baldiges Ende des Krieges und damit ein Ende des Hitler-Regimes gehofft haben.

Dann kamen jene Tage im April und im Mai 1945, wo sich der Wechsel vom NS-Staat zur Bildung eines demokratischen österreichischen Staates vollzogen hat. Da haben dann wahrscheinlich immer mehr Menschen über ihre Rolle in den vergangenen sieben Jahren nachgedacht. Da waren welche, die eindeutig Opfer des Nationalsozialismus waren, aber nicht mehr nachdenken konnten, weil sie schon tot waren; da waren welche, die nicht mehr in Wien nachdenken konnten, sondern in New York, Buenos Aires, Stockholm oder anderswo; und es gab Widerstandskämpfer, die tatsächlich ihr Leben aufs Spiel setzten. Es gab aber auch jene, die am NS-Regime aktiv beteiligt waren. Von ihnen sind viele geflohen, manche haben sich selbst getötet, manche sind verhaftet und zur Rechenschaft gezogen worden. Alle haben ihre Rolle verkleinert und sich als Unschuldslämmer dargestellt. Und nicht zuletzt gab es sehr, sehr viele Mitläufer, die zugeschaut haben, die weggeschaut haben, die es sich gerichtet haben und für die der Satz Alexander Solschenizyns gilt, dass die Grenze zwischen Gut und Böse oft mitten durch das Herz ein und denselben Menschen geht. Es gab also die außerordentlich schwierige Lage, zu beurteilen: Wer ist schuldig, wer ist unschuldig.

Wirklich nachfragen wollte aber niemand.

In den ersten Monaten nach Kriegsende sind sehr wohl energische Schritte der "Entnazifizierung" gesetzt worden - es gab Prozesse, Volksgerichtsprozesse, es wurden Todesstrafen verhängt und dutzende auch vollzogen, es wurden Arreststrafen verhängt und es ist das Verbotsgesetz beschlossen worden. Und es wurde die Kategorisierung in Belastete und Minderbelastete getroffen. Dann sind Hunderttausende von der Front und dann aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, die wieder ein normales Leben führen wollten. Und neben den drei Parteien aus der Gründungsphase der Republik - SPÖ, ÖVP, KPÖ - ist bald auch eine vierte Partei gegründet worden, der VdU (Verband der Unabhängigen, die spätere FPÖ, Anm.). Diese vierte Partei bildete ein politisches Lager, in dem viele der ehemaligen Nationalsozialisten eine Heimat gefunden haben, und - was man nicht vergessen darf - auch jene Großdeutschen, die es schon lange vor 1938 gegeben hat. Dieses Lager war groß genug, um in den taktischen Überlegungen der anderen politischen Parteien - insbesondere von SPÖ und ÖVP - eine Rolle zu spielen. Es entstand eine Betrachtungsweise, die sich aus Opportunismus und Realismus zusammengesetzt hat. Opportunismus, weil man ehemalige Mitläufer und Anhänger der NS-Bewegung auf die eigene Seite ziehen wollte, sowohl bei der ÖVP als bei der SPÖ. Realismus insofern, als man gesagt hat, wir wollen dieses Land nicht ewig spalten, wir wollen zur "Normalität" zurück und denjenigen, die zwar den NS-Parolen auf den Leim gegangen sind, sich aber heute als loyale Bürger der demokratischen Republik betrachten, wieder alle Türen öffnen und sie als gleichberechtigte Bürger integrieren.



Das war bei der KPÖ nicht der Fall?

Nein. Die KPÖ hat diese Tendenz verurteilt. Auch innerhalb der Sozialdemokratie hat es eine Gruppe gegeben - wenn ich an Josef Hindels, Hilde Krones, Karl Czernetz, Paul Blau denke -, die das kritisiert haben. Aber die große Mehrheit in der SPÖ hat gemeint, nachweisbare Verbrechen müssten natürlich geahndet werden, aber Leute, die - wie Kreisky oft sagte - als "junge Buam" der NSDAP beigetreten sind, weil ein beträchtlicher Druck auf sie ausgeübt wurde, denen solle man nicht für ewig einen Vorwurf machen.

Wie beurteilen Sie die Rolle der KPÖ in der Gründungsphase der Zweiten Republik?

In der Ersten Republik hat die KPÖ überhaupt keine Rolle gespielt, sie hatte auch nie ein Nationalratsmandat. Nicht zuletzt, weil die Sozialdemokratie eine kompakte, dem Austromarxismus verbundene linke Arbeiterpartei war. Dann hat die Parteiführung der Sozialdemokratie unter den Druck der Heimwehren immer mehr eine defensive Politik verfolgt. Diese defensive Politik wurde in wachsendem Maße innerhalb der Partei kritisiert - etwa von Friedrich Hillegeist, Karl Hans Sailer, Koloman Wallisch oder dem jungen Ernst Fischer, der damals noch Sozialdemokrat war. Nach der Februar-Katastrophe von 1934 hat diese linke Gruppe starken Zulauf bekommen und sich als eigene illegale Gruppe konstituiert. Die Sozialdemokratie war dann gespalten in Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten. Diese Spaltung hat sich im Laufe der Zeit nicht gemildert, sondern vertieft und nach 1938 sind von diesen Revolutionären Sozialisten etliche in die Sowjetunion emigriert und Kommunisten geworden. Da es in Österreich seit 1930 keine demokratischen Wahlen gegeben hat, war man sich 1945 zunächst über die Stärke der Kommunisten völlig unklar. Die Österreicher, die während der NS-Zeit in Moskau waren, wie Ernst Fischer, Friedl Fürnberg, Johann Koplenig, haben ihre Kräfte jedenfalls deutlich überschätzt. Sie dachten, sie seien die eigentlichen Nachfolger der Arbeiterbewegung. In dieser Überzeugung sind sie im April 1945 aus Moskau mit russischen Militärflugzeugen nach Wien zurückgekommen - ein anderer Teil ist aus dem Partisanenkrieg in Jugoslawien zurückgekehrt. Die haben den Sowjets gesagt, dass im Fall von freien Wahlen die Kommunisten wahrscheinlich 30 Prozent erhalten würden und die restlichen 70 Prozent würden sich zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten aufteilen.

Mit großer Zuversicht hat daher auch ein Vertreter der Kommunistischen Partei (KPÖ) am 27. April 1945 die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet, nämlich Johann Koplenig, der die Kriegsjahre in Moskau verbracht hatte.

Karl Renner wollte damals eine Drei-Parteien-Regierung mit SPÖ, ÖVP und KPÖ, aber auch den Westen Österreichs in die anstehenden Wahlen einbeziehen. Das ist glücklicherweise gelungen. Die KPÖ verlangte zwei Schlüssel-Ressorts, nämlich das Innen- beziehungsweise Polizeiministerium und das Unterrichtsministerium. Sie erhielt beides - aber nicht für lange. Und zwar aufgrund des schlechten Wahlergebnisses der KPÖ.

Die KPÖ erreichte bei der ersten Wahl am 25. November 1945 nur fünf Prozent.

Ja. Die Wahl war ein Schock für die Kommunisten. Damals gab es 165 Abgeordnete. Davon erhielten die ÖVP 85, die SPÖ 76 und die KPÖ vier Mandate. Und sowohl die SPÖ als auch die aus der Christlich-Sozialen Partei hervorgegangene ÖVP waren fest entschlossen, eine Koalition zu bilden, in der die Kommunisten nur noch mit einem Minister vertreten waren. Es war dies der Energieminister Altmann. Als dann die Debatte um den Marshallplan 1947 begonnen hat, hat Altmann die Regierung verlassen und aus der Drei-Parteien-Regierung wurde eine große Koalition.

Vor allem die Gewerkschaften grenzten sich aber nach 1945 interessanterweise stark von der KPÖ ab und unterhielten lieber ausgezeichnete Kontakte zu den Amerikanern und nicht zu den Sowjets. In bestimmten Industrie-Standorten Ostösterreichs, in Wiener Neustadt und St. Pölten etwa, hatten die Kommunisten eine durchaus starke Basis. Die sozialdemokratischen Gewerkschafter suchten daher eine Abgrenzung nach links und den Kontakt zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung. Umgekehrt haben die Amerikaner festgestellt, dass die österreichischen Gewerkschafter in ihrer großen Mehrheit antikommunistisch eingestellt sind, und haben Kontakte zu ÖGB Vertretern gesucht. Franz Olah war da eine wichtige Adresse. 1949 gründete sich der VdU (eine Vorgängerpartei der FPÖ), der bei der Wahl am 9. Oktober 1949 gleich ein zweistelliges Ergebnis (11,5 Prozent, Anm.) erzielte, weil viele von jenen, die 1945 noch vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, inzwischen wieder wahlberechtigt waren.

Die enge Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP ging weiter und dauert ja bis heute. Wenn wir die Ereignisse vor 70 Jahren beleuchten, ist es auch notwendig, die Gegenwart zu beleuchten. Was haben wir 70 Jahre später daraus gemacht? Hannes Androsch schreibt im Vorwort seines neuen Buchs in Anlehnung an Franz Grillparzer, dass "Erfolg die Mutter von Selbstgefälligkeit, und damit des Versagens" sei. Teilen Sie den kritischen Befund?

Ich meine, dass Hannes Androsch recht hat, was den Erfolg betrifft. Die Zweite Republik ist eine Erfolgsstory, aber es gibt keinen Automatismus dafür, dass der Erfolg sich immer weiter fortsetzt. 70 Jahre sind eine lange Zeit und in 70 Jahren entwickelt sich eine Gesellschaft ganz enorm weiter. Damit entsteht ein großer Reformdruck, dem man Rechnung tragen muss. Und in Zeiten einer Finanzkrise mit sehr geringem Wachstum ist es besonders schwer, diesem Reformdruck Rechnung zu tragen. Das ist die Situation, in der wir uns befinden.

Welcher Reformdruck ist gemeint?

Ich meine erstens den Reformdruck in Richtung einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Ich meine zweitens den Reformdruck in Richtung Veränderung und Modernisierung unserer Strukturen. Also das, was man oft Verwaltungsreform nennt. Ich meine drittens den Reformdruck durch den starken internationalen Wettbewerb und ich meine viertens den Reformdruck durch neue Technologien und nicht zuletzt auch den Reformdruck durch die Veränderung der politischen Strukturen in Europa und in der Welt.

Denken Sie daran, dass wir 1945 ein Drei-Parteien-Parlament hatten und jetzt ein Sechs-Parteien-Parlament. Denken Sie daran, dass
die beiden stärksten Parteien 1945 mehr als 95 Prozent der Stimmen hatten und heute nur knapp über 50 Prozent. Denken Sie daran, dass sich die Mitgliedszahlen der großen Parteien in etwa halbiert haben, dass die sogenannte Parteipresse völlig verschwunden ist und dass sich das sogenannte Parteileben völlig verändert hat. Denken Sie daran, dass der sogenannte Wechselwähler in der Frühzeit der Zweiten Republik eine seltene Species war, während heute mehr als die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler potenzielle Wechselwähler sind etc.

Wird in solch einer Konstellation der Bundespräsident eine wichtigere Rolle erhalten?

Das ist nicht notwendig. Die Funktion des Bundespräsidenten ist meiner Meinung nach sehr vernünftig geregelt. Aber wir dürfen eben nicht vergessen, wie viel sich in den vergangenen Jahrzehnten Schritt für Schritt geändert hat. Es hat in Europa - wenn ich vom Fall des Eisernen Vorhangs absehe - in den letzten Jahrzehnten keine Revolution gegeben und doch hat sich wahrscheinlich mehr geändert, als in einer "normalen Revolution" geändert werden kann. Dies umso mehr, als auf eine Revolution meist ein Rückschlag des Pendels der Geschichte erfolgt!

Noch eine Frage zur Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Wenn die EU aus dem Grenzschutz-/Seenotdienst ein militärisches Projekt macht, kann das neutrale Österreich teilnehmen?

Ich halte nichts davon, aus dem, was getan werden muss, ein militärisches Projekt zu machen. Aber mit der Neutralität hat das wenig zu tun. Menschen zu retten verstößt ja nicht gegen die Neutralität. Aber eine exakte Antwort könnte man nur geben, wenn ein konkretes Projekt vorliegt.

Der 70. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik wird am Montag, 27. April, begangen. Zelebriert wird das Gedenken durch das offizielle
Österreich mit Kranzniederlegungen des Bundespräsidenten Heinz Fischer, gefolgt von Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mittlerlehner beim Staatsgründerdenkmal sowie einem Staatsakt in der Wiener Hofburg, zu dem der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck
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