Jair Bolsonaro gegen Lula da Silva - Brasilien steht bei den Präsidentschaftswahlen vor einer Richtungsentscheidung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Monica Reis (52) ist begeistert. "Das war die beste Entscheidung eines Präsidenten in den letzten 30 Jahren", sagt die Uber-Fahrerin aus Rio. "Für die Wirtschaft war das Gold wert." Gemeint ist die drastische Steuersenkung auf Sprit in Brasilien, die das Tanken an der Zapfsäule nun zu einem der billigsten in Lateinamerika macht. Wer Glück hat, kann in diesen Tagen für umgerechnet 95 Cent pro Liter auftanken. "Ein unverantwortliches Wahlkampfgeschenk auf Kosten der Steuerzahler", wettert dagegen Ölarbeiter Rafael Chagas (56).
Er misstraut den Versprechungen jenes Mannes, der die Preissenkungen durchgesetzt hat: Jair Bolsonaro. Der rechtspopulistische Präsident (67) steht am 2. Oktober erneut zu Wahl. Sein Herausforderer ist Luiz Inacio Lula da Silva (76), der Brasilien von 2003 bis 2011 schon einmal regiert hat. Der beste Präsident der brasilianischen Geschichte finden seine Anhänger, katastrophal wie seine Kritiker sagen.
Lula laut Umfragen vorne
Die Umfragen sagen einen Sieg Lulas - spätestens in einer Stichwahl am 30. Oktober - voraus. Lula selbst glaubt an einen Triumph im ersten Wahlgang, das aber ist laut Prognosen die unwahrscheinlichere Variante. So eindeutig wie es Lula erhofft ist die Stimmungslage offenbar nicht. Jüngst konnte Bolsonaro im ganzen Land Hunderttausende Anhänger am Unabhängigkeitstag auf die Straße bringen, unter seinen Wählern ist der Mobilisierungsgrad hoch.
Wie hoch zeigt sich auf Avenida Atlantica, wo sogar Bolsonaro-Anhänger in die Knie gehen, um zu beten, dass ihr Präsident im Amt bleibt. Auf ihren gelben T-Shirts sind Worte wie Gott, Familie, Vaterland aufgedruckt: Sie beten, dass Bolsonaro (67) das Land gegen den Kommunismus, die Unfreiheit, die Gender-Ideologie und die Abtreibung verteidigt.
Präsidentengattin Michelle Bolsonaro hatte zuvor bereits den heiligen Krieg ausgerufen: Ihr Mann, so sagt die First Lady Brasiliens, sei ein von Gott Gesandter, um den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasilia gegen die Dämonen zu verteidigen. Gemeint ist damit Lula, den sie einen "Dieb" nennen - wegen zahlreicher Korruptionsskandale, die in seiner Amtszeit seinen Anfang nahmen. Auf den Plakaten, die zur Demo einladen, steht das Wortspiel "Luladrao" - eine Mischung aus Lula und Ladrao (Dieb). Dass sich Lula persönlich bereichert hat, ist allerdings bis heute nicht bewiesen.
Unbelegter Vorwurf
"Kapitän des Volkes" heißt der Song der Bolsonaro-Kampagne, der immer wieder aus den Lautsprechern in voller Lautstärke dröhnt. Abgelöst werden die Klänge durch einige Spottlieder über Lula oder die Nationalhymne. Hier sind sie überzeugt, dass die Umfragen nicht stimmen, die Justiz beim Wahlbetrug hilft und Bolsonaro nur durch Manipulation der elektronischen Urne aus dem Amt gedrängt werden kann. Stichhaltige Beweise dafür gibt es keine, dafür aber ein "komisches Gefühl, dass etwas nicht stimmt", wie Rafaela Reis sagt.
Bolsonaro spielt mit diesem unbelegten Vorwurf. Seine Gegner behaupten, er plane wie Ex-US-Präsident Donald Trump nach dessen Niederlage einen Sturm der Anhänger auf Washington. Es könne einen Putschversuch in Brasilien geben. Dann kommt der von "Gott Gesandte" persönlich. Standesgemäß mit einer Motorrad-Karawane, die Bolsonaro selbst anführt. Als er spricht, recken sich tausende Smartphones in die Höhe, um den Moment festzuhalten.
Bolsonaro wiederholt die drei Schlagworte, die immer wieder auftauchen: Gott, Familie, Vaterland. Er richtet sie an seine überwiegend evangelikale, fundamental christliche Wählerschaft. Die ist in den vier Jahren weiter gewachsen, ob sie allerdings den deutlichen Verlust in der pragmatischen Mitte ausgleichen kann, die Bolsonaro inzwischen viel kritischer sieht als noch vor vier Jahren, bleibt abzuwarten. Die Masse hört ihm fasziniert zu: "Niemals werden wir zulassen, dass die Fahne Brasiliens rot wird", betont Bolsonaro. Jubel. Seine Basis ist fest davon überzeugt, dass er weiter der richtige Mann ist, um Brasilien zu führen.
Eine knappe halbe Metro-Stunde entfernt hatte sich zuvor Lula feiern lassen. Im Stadtzentrum hatten sie bereits zum Auftakt des Wahlkampfes eine multimediale Bühne aufgebaut, immer wieder flimmern Bilder aus der guten alten Zeit über die riesigen Screens. Mehr als zehntausend Menschen sind gekommen, die auf einen Wechsel hoffen.
Das Publikum hat Fahnen und Plakate mitgebracht, die an den vor ein paar Wochen ermordeten Indigenen-Schützer Bruno Pereira und den britischen Journalist Dom Phillips erinnern. Das Attentat im Amazonas ging um die Welt. Einige Anhänger tragen tatsächlich rote Mützen auf denen steht: "Make Lula great again".
Ein guter Schuss Selbstironie, denn Lula ist ein scharfer Kritiker Trumps (Make America great again), der als Verbündeter Bolsonaros gilt. Doch es steckt auch ein Fünkchen Wahrheit darin: Lula spielt mit dem Gefühl, dass früher - unter ihm - alles besser war. Tatsächlich erlebte das Land unter dem Linkspolitiker einen wirtschaftlichen Aufstieg - damals bezahlt mit Amazonas-Abholzung für die Agrar-Industrie und der Jagd nach fossilen Brennstoffen.
Doch der Zeitgeist und die Anforderungen haben sich geändert. Bolsonaro hat das nicht verstanden, Lula verspricht zumindest eine Null-Abholzungs-Strategie, die Brasilien aus der internationalen Isolation in die der uneinsichtige Bolsonaro das Land geführt, herausführen soll. Lula redet über soziale Gerechtigkeit, über die Rechte der afrobrasilianischen und indigenen Bevölkerung. Dass an diesem Abend allerdings nur vier weiße Männer und eine weiße Frau sprechen, kritisiert später die afrobrasilianische Bewegung in Rio. Für das Lula-Lager ist Bolsonaro wegen seiner chaotischen Corona-Politik ein Völkermörder, Lula sieht Brasilien in einer ähnlichen Lage wie Deutschland vor der Machtübernahme der Nazis. Die Bolsonaro-Demonstrationen am Unabhängigkeitstag wird er dann später eine Versammlung des rassistischen Ku Klux Klan nennen.
"Der Wahlkampf ist durch eine
polarisierte Stimmung und Angst
vor Gewalt, die auf beiden Seiten durch die Hauptkontrahenten und ihre Anhänger geschürt wird, gekennzeichnet und weniger durch neue Konzepte und Ideen für das Land", sagt Anja Czymmeck, Leiterin der CDU nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien.
Duell der Alphatiere
Tatsächlich beschimpfen und beleidigen sich die beiden Lager fast ununterbrochen gegenseitig. Darunter leiden die beiden anderen aussichtsreichsten personellen Alternativen im Wahlkampf. Der moderate Linke Ciro Gomes (8 Prozent) und die Mitte-Rechts-Politikerin Simone Tebet (5 Prozent) dringen mit ihren Vorschlägen und Konzepten gegen die politischen Alphatiere nicht durch.
Entscheidend für den Wahlausgang wird das Verhalten der Wechselwähler in der Mitte sein. Und hier hat Bolsonaro viel Zuspruch verloren. Während der Corona-Pandemie ließ er es an fehlender Empathie vermissen, gab nutzlose Ratschläge mit der Empfehlung von Medikamenten, deren Wirkungsgrad zweifelhaft war, verschliss vier Gesundheitsminister.
Am Ende sind fast 700.000 Menschen an oder mit Covid gestorben. Vor allem in den großen, eng bebauten Metropolen mit ihren verschachtelten Favelas kennt fast jeder Bewohner eine Familie, die einen Menschen durch Covid verloren hat oder war selbst betroffen. Hinzu kommt eine internationale Isolation als Konsequenz von inakzeptablen Beleidigungen zum Beispiel der Ehefrau des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und das Festhalten an einer Amazonas-Abholzungspolitik, für die es außerhalb des Bolsonaro-Kosmos praktisch keine Fürsprecher gibt.
Der Präsident setzt in den letzten Wochen alles auf eine Karte und brachte Entlastungspakete und Hilfsprogramme in Stellung: 600 Real (etwa 130 Euro) erhalten armen Familien via dem Sozialprogramm "Auxilia Brasil" aus der Staatskasse, die Steuersenkung auf den Spritpreis ist eine weitere Reaktion. Ob das alles reichen wird, um das zerschlagene Porzellan zu kitten, wird sich schon im ersten Wahlgang zeigen. Verpasst Bolsonaro die 40 Prozent-Marke, wie von den Umfragen vorhergesagt, wird es kaum möglich sein das Ruder herumzureißen. Der Großteil der Brasilianer will lieber Lula zurück, wenngleich ein nicht unerheblicher Teil der Wähler mit einer Faust in der Tasche.