Die Spesenaffäre demobilisierte FPÖ-Wähler in letzter Minute. Die Migrationspolitik bleibt ein dominantes Thema.
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Die Affäre rund um die Spesenabrechnungen von Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache bescherte der FPÖ einen "unglaublichen Demobilisierungseffekt". Zu diesem Schluss kamen der Politikwissenschafter Fritz Plasser und der Wahlforscher Franz Sommer. Sie präsentierten am Dienstag in Wien ihre Analyse des Wahlergebnisses.
Laut Plasser hatte die Affäre zwei Auswirkungen. Einerseits blieben enttäuschte Blaue der Urne fernen. Das habe zur deutlich gesunkenen Wahlbeteiligung beigetragen, so Plasser. Sie lag bei 75 Prozent, bei der Wahl 2017 waren es noch 80 Prozent gewesen. Andererseits machten potenzielle FPÖ-Wähler in letzter Minute doch noch bei der ÖVP ihr Kreuz. Plasser und Sommer zeigten sich über diesen Effekt "sehr überrascht": Man habe damit gerechnet, dass die Affäre im Wahlkampf zu spät aufgekommen sei und keine größeren Verschiebungen mehr verursachen könne. Doch habe sie die zunächst nur verhaltene Verlustdynamik bei der FPÖ "schlagartig verschärft".
Plasser vermutete, dass hierbei die sozialen Medien und Boulevardmedien, die sich dem Thema ausführlich gewidmet haben, eine große Rolle gespielt haben. Statistisch lässt sich das Phänomen bisher nicht fassen. Die Daten zur Analyse basieren auf 1600 Befragungen, die zwischen dem 25. und 27. September gemacht wurden, als die Affäre erst aufkochte.
Das Ibiza-Video hat das Wahlverhalten laut Plasser und Sommer jedenfalls weniger beeinflusst: Nur jeder sechste Abwanderer von der FPÖ hat seine Entscheidung mit Verweis auf das Ibiza-Video begründet.
Zahlreiche Wechselwähler
Die Forscher beobachteten gewichtige Veränderungen in der Wählerstruktur. "Die Wähler sind hochgradig mobil, parteiunabhängig und reagieren schnell auf Entwicklungen", sagt Plasser. Der Wechselwähleranteil liege bei rund 40 Prozent – ein historischer Höchstwert. Nur mehr 32 Prozent der Wähler besitzen eine gefühlsmäßige Bindung zu einer Partei. Vor dreißig Jahren pendelte dieser Wert zwischen 60 und 70 Prozent.
Große Veränderungen wurden auch in der Wählerschaft der ÖVP wahrgenommen. Diese sei deutlich heterogener und schärfer positioniert als früher, so Plasser: "Sie schätzt sich selbst als rechts der Mitte ein." Dazu passt ins Bild, dass der größte Wählerstrom zwischen ÖVP und FPÖ floss: zwischen 250.000 bis 310.000 Stimmen zogen die Türkisen von den Blauen ab.
Thematisch stach bei diesem Wahlkampf der Klimawandel hervor. Für 40 Prozent der Wähler ist es eines der Themen, die sie am meisten beschäftigten bzw. Sorge bereiteten. Ein weiteres bestimmendes Thema ist die Migrations- und Integrationspolitik. Sie nahm – im Vergleich zur Wahl 2017 – in der medialen Berichterstattung zwar einen geringeren Stellenwert ein. Zu glauben, dass es sich nun aber um ein Randthema handle, sei ein "unglaubliches Missverständnis", so Plasser: "Es emotionalisiert, mobilisiert und polarisiert."
So findet sich an zweiter Stelle hinter dem Klimawandel der Bereich "Probleme mit Flüchtlingen/Asylanten". 31 Prozent halten es für eines der dringendsten Themen. Wie schwierig es für ÖVP und Grüne sein wird, eine gemeinsame Linie zu finden, zeigt sich in den konträren Einstellungen zu Migrations- und Asylfragen. 63 Prozent der ÖVP-Wähler meinen, dass die "Folgen der Flüchtlingskrise weiter für ernste Probleme" sorgen werden.
Bei den Grünen sind es 16 Prozent. Zudem erklären 17 Prozent der ÖVP-Wähler, dass Österreich weiterhin Flüchtlinge aufnehmen könne, bei den Grünen sprechen sich 63 Prozent dafür aus.
Den Wahlerfolg der ÖVP machten die Forscher an diversen Faktoren fest. Es habe eine hohe Zufriedenheit mit der Arbeit von Türkis-Blau gegeben, sagt Plasser. Insgesamt zeigen sich 58 Prozent zufrieden, 40 Prozent unzufrieden. 94 Prozent der ÖVP-Wähler und FPÖ-Wähler bewerten die türkis-blaue Regierungsarbeit positiv.
Unverständnis für Abwahl
Zudem sei Spitzenkandidat Sebastian Kurz – im Gegensatz zu den anderen Kandidaten – selbst ein wichtiger Grund gewesen, die ÖVP zu wählen, sagte Plasser. Die Mehrheit der Wähler sei seiner Abwahl als Kanzler mit Unverständnis begegnet. Das zeige sich auch bei den Umfragedaten und Ergebnissen der SPÖ, so Plasser. Bis zur EU-Wahl sei die SPÖ in den Umfragen konstant bei 26 bis 27 Prozent gelegen. Nach dem angekündigten Misstrauensvotum gegen Kurz habe es einen "schlagartigen Rückgang" gegeben: "Die SPÖ hat sich bis heute nicht davon erholt."