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Dieses große schwarze Loch

Von Andrea Stift

Reflexionen

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Wenn ich das höre, möchte ich schreien.


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Wie man das aushalten kann. Das wusste ich zuvor nicht. Jetzt, danach, weiß ich es auch noch nicht. Wie man mit diesem lebenszersprengenden Gefühl weitermachen kann. Mit diesem großen, schwarzen Loch.

Das eine große Scheißding namens Tod: Auch die Britin Jane Todd hat den Tod ihrer Mutter künstlerisch verarbeitet. Mit "Last Portrait of Mother", das ihre Mutter am Sterbebett zeigt, gewann sie 2010 den Porträtpreis der Londoner National Portrait Gallery.
© © National Portrait Gallery London

Im Dezember vor fünf Jahren ist mein Vater gestorben. Er hatte Kehlkopfkrebs, das Karzinom konnte man ihm entfernen. Die Zeit, in der es ihm besser ging, und die Zeit, in der es dann wieder mit ihm bergab ging, hin zum Lungenkrebs, lebte er mit einem Tracheostoma (einer mithilfe einer auswechselbaren metallischen Vorrichtung permanent geöffneten Luftröhre, wenn man das als medizinischer Laie so sagen darf). Der Arme, dachten alle, die ihn sahen, insgeheim. Er konnte nicht mehr sprechen, nur mehr undeutlich lautieren. Er hat uns alles, was er durch Lautieren und Grimmmassieren und Gestikulieren nicht ausdrücken konnte, auf kleine Zettel geschrieben. Die kleinen Zettel sind durch alle Räume und die Leben aller Beteiligten geflogen. Meine Schwester und ich haben fast alle aufgehoben. Wir haben nur die weggeworfen, auf denen Unerträgliches stand. Mein Vater hat sich mit letzter Kraft und einer illegalen Waffe erschossen.

All das Romantische war da

Ich habe meinen Vater sehr geliebt und ich habe sehr getrauert. Ich war nicht die Einzige, die um ihn getrauert hat, aber doch war ich mit dieser Trauer allein. Als ich dachte, jetzt ist es endlich vorbei mit meinem Unglück, ist es erst richtig losgegangen. An jedem Straßeneck glaubte ich, meinen Vater zu sehen. Schlafstörungen setzten ein. Ich flüchtete in die Umarmungen Fremder, um mich wieder zu spüren. Ein Jahr nach seinem Tod fühlte ich mich so verloren, dass ich mich selbst nicht mehr erkannte. Dadurch ist, im Rückblick, auch Gutes in meinem Leben passiert. Aber wie ich so eine Schwermut jemals wieder überstehen sollte, das konnte ich mir nicht erklären. Ich fürchte mich seitdem. Ich zählte und zähle die, die ich liebe und hoffe, ich sterbe vor ihnen und wünsche gleichzeitig niemandem, dass er um mich arg trauern müsste.

Im Jänner dieses Jahres ist meine Mutter gestorben. Sie hat sich auf ihre Art das Leben genommen und sich ins Jenseits getrunken. Deine Augen sind ganz gelb, du gehörst ins Krankenhaus, sagte ich, das wusste ich doch auch nur von House, M.D. Sie wollte nicht ins Krankenhaus, nicht schon wieder, am Wochenende würde dort sowieso nichts geschehen, lieber bis Anfang der Woche im Heim bleiben. Als man sie endlich einlieferte, war es viel zu spät, sie fiel in einen komaähnlichen Zustand. Ich hätte sie selbst hinbringen müssen, auf der Stelle und gegen ihren Willen. Später hat meine Schwester dann die leeren Flaschen mit dem Hochprozentigen gefunden. Meine Mutter ertrank sich ihren täglichen Spiegel normalerweise mit Billigsekt. Zum Abschied aus dieser Welt, in der sie nicht mehr sein wollte, hatte sie sich Weinbrand und Wodka zugelegt.

Auf dem Tisch meiner Mutter stand die letzten fünf Jahre die Urne meines Vaters. Was er dazu gesagt hätte, weiß ich nicht, aber in Wahrheit, denke ich, ist das ja auch egal. Sein Tod löste eine ungeheure Verzerrung der Verhältnisse bei meiner Mutter aus. All das Romantische war wieder da, all der Hass vergessen. Kaum war mein Vater tot, lebte sie nur mehr für ihn.

Als meine Mutter starb, ging ich durch eine andere Art von Seelenpein. Sie war sofort, von der ersten Sekunde an, begleitet durch das Gefühl, eine große Schuld auf mich zu laden, weil ich um sie nicht so tief trauerte wie um meinen Vater. Ich trauerte anders um sie, das schon. So muss es Eltern gehen, die ihre Kinder verschiedenartig lieben. Man liebt sie anders. Ob es vielleicht nicht einfach Abstufungen gibt in der Gefühlsintensität, darüber denkt man nicht nach, man rührte damit an ein großes Tabu.

Weil meine Mutter im Jänner dieses Jahres gestorben ist, warte ich geduldig, bis das Jahr herum ist. Vielleicht, denke ich, kommt dann erst das große Entsetzen, zeitverzögert, wie bei meinem Vater. Ich fürchte mich schon jetzt davor.

Die Trauer, ein Ungemach

Was ist es mit dem Sterben der Eltern, ist es wirklich die Tatsache, dass wir Kinder die Nachfolgenden, die Nächsten sind? Ich weiß es nicht. Ich gehe davon aus, dass jeder, in jedem Augenblick, unabhängig von Alter oder Zustand der Nächste sein kann. Das klingt nur so furchtbar, aber ich denke, es hilft mir, die Raten meiner nicht vorhandenen Lebensversicherung zu ignorieren.

Was das Sterben der Eltern indes wirklich mit sich bringt, ist das Abgraben der Wurzeln der Erinnerungen. Es gibt so vieles, was ich sie immer noch fragen wollen würde. Es gibt so vieles, was ich nicht mehr weiß oder noch nie gewusst habe. Es fehlt ein großes, anzapfbares Fundament an Wissen in meinem Leben.

Die Trauer ist ein großes Ungemach in unserer Gesellschaft. Getrauert wird nur an amtlich geprüften, von allen Seiten anerkannten Orten. In der Aufbahrungshalle. Am Grab. Auch im Blumengeschäft können die Floristen damit umgehen, dass man weinend den Kranz bestellt. Aber alles drumherum will nicht belästigt, nicht vergegenwärtigt werden. Ich kann mich noch erinnern, wie ich heulte, als mein Vater starb. Es fing am ersten Abend an, ein stetes, haltloses, nicht einzubremsendes Heulen und Zähneklappern, und es begleitete mich überall hin. Was mache ich, was machen Sie, wenn sie einen weinenden Menschen auf der Straße sehen? Einen, dem die Trauer die Gesichtszüge in alle Richtungen reißt, den es schüttelt, der ohnehin schon von selbst einen dunklen Platz sucht, an dem er sich verstecken darf? Sie gehen weiter. Ich gehe weiter. Wir reden uns ein, dass dieser Mensch nicht gestört werden will. In Wahrheit wollen wir nichts zu tun haben mit dem Rotz und dem Wasser und den feuchten Händen und der Verzweiflung. Sonst würden wir vielleicht erinnert werden an das eine große Scheißding namens Tod, dass alle rund um uns irgendwann umsäbeln wird, und zwar hundertprozentig.

Eines der schlimmsten Dinge am Sterben meiner Eltern war, dass ich sie danach nicht mehr anrufen konnte. Zuvor telefonierten wir täglich. Sie wussten immer, wie es mir ergeht. Ich habe sie von den wichtigen und unwichtigen Dingen meines Tages informiert. Meinem Vater habe ich, als er bereits sein Tracheostoma hatte, ins Telefon gesagt, dass ich ein großartiges Literaturstipendium bekommen hätte, damit er sich mit mir mitfreut. Er hat auf den Hörer geklopft - ich wusste, er versteht mich; er wusste, ich verstehe ihn. Ich hätte ihn so gerne angerufen, nachdem er tot war, um ihm zu sagen, wie ich so überhaupt nicht damit leben kann. Ich hätte ihn gerne um Rat gefragt. Er hätte ihn mir nicht versagt. Ich lebe zum Glück trotzdem. Das ist ja das Furchtbare.

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man, und immer, wenn ich das höre, möchte ich schreien. Weil das nicht stimmt.

Leider bin ich nicht gläubig. Ich habe nie gelernt, mich mithilfe von Träumen zu trösten. Manchmal beneide ich die, die das gut können und gerne tun. Der Glaube auf ein Aufgefangenwerden nach dem Tod, vielleicht an ein Wiedersehen mit denen, die man liebt, ja überhaupt: der Glaube, dass da noch irgendetwas ist, den habe ich nicht. Ich glaube an das große schwarze Nichts. Eine freudlose Existenz bin ich deswegen nicht, aber eine zeitweise in tiefer Verzweiflung innehaltende.

Ganz selten hilft mir die Trauer. Sie hilft mir, verspätet, aber doch, daran zu denken, dass die Zeit, die ich mit anderen verbringen kann, nicht unbegrenzt ist. Dass es nicht selbstverständlich ist, diejenige oder denjenigen am nächsten Tag noch gesund und munter vorzufinden. Ich lerne, mich ordentlich zu verabschieden und keine Unausgesprochenheiten übrig zu lassen.

Was ich hingegen bis heute nicht kann und vielleicht auch nie lernen werde: mit diesen großen schwarzen Löchern umzugehen, die der Tod meiner Eltern in mein Leben gerissen hat. Ich tu nur so.

Zur PersonAndrea Stift (35) veröffentlichte zuletzt : "Elfriede Jelinek spielt Gameboy" (Edition Keiper). 2012 erhielt sie den Theodor-Körner-Preis für Literatur.