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Dieses Mal ist alles anders

Von Thomas Seifert

Leitartikel

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"Die Photos waren entsetzlich", lauten die ersten Worte einer "Spiegel"-Geschichte über einen Giftgas-Einsatz. Doch im Text geht es nicht um die Story des deutschen Nachrichtenmagazins von vergangener Woche, mit dem grauenhaften Bild der Opfer eines Giftgasangriffs in Damaskus am Cover. Sondern in diesem Artikel aus dem "Spiegel" 11/84 geht es um einen Senfgas-Angriff auf iranische Truppen im Iran-Irak-Krieg im Jahr 1983/84. Im März 1984 schickte der Iran 15 schwer verletzte Soldaten nach Wien ins AKH, nach Stockholm und Uppsala. Der Wiener Anästhesist Herbert Benzer führte damals die Verletzungen der Opfer auf ein Giftgas, vermutlich Senfgas zurück.

Die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft? Null. Schließlich war Angreifer Saddam Hussein damals ein Verbündeter des Westens im Kampf gegen den verhassten Ayatollah Ruhollah Khomeini. Bei einem Gasangriff von Saddams Truppen auf die kurdische Stadt Halabja im Jahr 1988 starben zwischen 3200 und 5000 Menschen. Internationale Reaktion: wieder null. In einer ersten Reaktion machten die USA sogar das Opfer Iran für den Angriff verantwortlich, eine Verurteilung im UN-Sicherheitsrat scheiterte am Veto der Vereinigten Staaten und den Enthaltungen unter anderem von Großbritannien und Frankreich.

Es ist erfreulich, dass die USA dieses Mal nicht wegschauen wollen. Und es ist auch erfreulich, dass US-Präsident Barack Obama nicht sofort die Bomber und Marschflugkörper losschickte, sondern offenbar Artikel I, Kapitel 8, Paragraf 11 der US-Verfassung gelesen hat, der dem US-Kongress das Recht, Kriege zu erklären, vorbehält. Die nun geplante Militäraktion gegen Syrien ist nicht unumstritten, es ist also klug, den Volksvertretern die Letzt-Entscheidung zu überantworten.

Weniger erfreulich ist die Tatsache, dass Obama offenbar gewillt ist, sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen und notfalls auch ohne Sicherheitsratsmandat loszuschlagen. Zu Recht warnt UN-Generalsekretär Ban Ki-moon vor so einem Schritt. Die USA sollten bedenken, dass sie in 20, 30 Jahren vielleicht nicht mehr unumstrittener Hegemon auf dem Planeten Erde sein werden: Ignorieren die USA wiederholt das Völkerrecht und setzten damit einen Präzedenzfall nach dem anderen, was wird die neuen Weltmächte - etwa China - daran hindern, dereinst dasselbe zu tun? Der G20-Gipfel in St. Petersburg bietet Obama eine letzte Chance, die skeptischen Vetomächte Russland und China mit ins Boot zu holen.