)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Dieter Senghaas hat wie kaum ein anderer Autor die kritische Friedensforschung beeinflusst. Die Integration von Friedens- und Entwicklungsforschung, die seine Arbeit immer prägte, fand in den vergangenen Jahren ihren Ausdruck im Konzept des zivilisatorischen Hexagons.
Dieter Senghaas wurde im Jahre 1940 geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Tübingen und Stuttgart sowie an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten. Sein Interesse richtete sich früh auf die systematische Analyse internationaler Politik und internationaler Beziehungen und in diesem Rahmen vor allem auf die Friedensforschung. Dabei war er beeinflußt von Johan Galtung und Karl W. Deutsch. Nach seiner Promotion in Frankfurt im Jahre 1967 arbeitete er mit am Aufbau der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), wo er von 1970 bis 1978 als Forschungsgruppenleiter tätig war.
Seit 1972 war er gleichzeitig Professor für internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt, bis er 1978 an die Universität Bremen berufen wurde. Dort ist er am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien als Professor für internationale Politik und Gesellschaft, insbesondere Friedens-, Konflikt- und Entwicklungsforschung tätig. Seit 1986 hatte er zweimal Forschungsprofessuren an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen inne (Themen: Regionalkonflikte in der Dritten Welt, Europäische Friedensordnung), in einer Vielzahl von Ländern stellte er seine Arbeiten auf Vortragsreisen vor. Dieter Senghaas hatte sich durch seine Beiträge zur Friedensforschung (vor allem sein Buch zum Thema "Abschreckung und Frieden" und den Begriff der "organisierten Friedlosigkeit") bereits einen Namen gemacht, bevor er 1972 mit der Herausgabe des Sammelbandes "Imperialismus und strukturelle Gewalt" der entwicklungstheoretischen (und später auch -politischen) Diskussion, aber auch seiner Disziplin Internationale Beziehungen einen kräftigen Impuls gab -und dies durchaus entsprechend seinem Selbstverständnis als Friedensforscher, da es ihm im Sinne der "kritischen Friedensforschung" nicht nur um die Abwesenheit von Krieg, sondern auch um die Überwindung struktureller Gewalt ging. Dem ersten Sammelband folgte ein zweiter 1974 ("Peripherer Kapitalismus"), ein dritter 1979 ("Kapitalistische Weltökonomie").
Das 1977 erschienene Buch "Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik - Plädoyer für Dissoziation" war Senghaas erste Monographie zur Entwicklungstheorie und verknüpfte seinen Namen vor allem in den Augen seiner Kritiker untrennbar mit dem Begriff der "Dissoziation". Senghaas spricht von einem internationalen Kompetenzgefälle, das einen starken Peripherisierungsdruck auf die weniger fortgeschrittenen Länder ausübe und ohne gezielte politische Intervention nicht überwunden werden könne. Es müsste die Befriedigung von Grundbedürfnissen und die Eingliederung der Masse der Menschen in eine produktive Beschäftigung vorangetrieben werden.
Der Begriff der "Zivilisierung", u. a. anknüpfend an Norbert Elias, diente seit dem 1988 erschienenen Buch "Konfliktformationen im internationalen System" als verbindendes Konzept zwischen der Friedensforschung im engeren Sinne und einer erneuten Beschäftigung mit "Entwicklung".
1994 stellte er in "Wohin driftet die Welt?" das Konzept des "Zivilisatorischen Hexagons" vor. Moderne Gesellschaften seien gekennzeichnet durch eine Pluralität von Identitäten, einschließlich unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen sowie gleichzeitig einer Pluralität von Interessen: Wenn solche Gesellschaften nicht in potentiell gewaltsamen Dauerkonflikten versinken sollen, bedarf es in ihnen politischer Vereinbarungen, d. h. der Verständigung über Wege der Koexistenz und der geregelten Konfliktlösung, gerade wegen der prinzipiell nicht überwindbaren Meinungs- und Interessenvielfalt.
Das "Zivilisatorische Hexagon" ist durch die folgenden sechs Eckpunkte gekennzeichnet, deren gesellschaftliche Entwicklung eng miteinander verknüpft ist: Gewaltmonopol;
Rechtsstaatlichkeit, Interdependenzen und Affektkontrolle; demokratische Beteiligung; soziale Gerechtigkeit; konstruktive politische Konfliktkultur.
Senghaas sieht das Hexagon als Ausdruck konfigurativen Denkens, wodurch das Verständnis der wechselseitigen Korrektive zwischen den einzelnen Komponenten möglich und eine verkürzte, sich auf einzelne Punkte konzentrierende Analyse ("schrumpftheoretisches Denken") vermieden wird. Er entwickelt seine Ideen zunächst in bezug auf den in den heutigen modernen Gesellschaften vollzogenen Zivilisierungsprozeß, diskutiert dann aber in den beiden weiteren Teilen des Buches auf dieser Grundlage sowohl die Problematik "nachholender Zivilisierung" als auch die Problematik der Zivilisierung internationaler Beziehungen.
"Zivilisierung wider Willen" führt die Arbeiten zu diesem Thema weiter in Richtung auf eine "zivilisierungsorientierte" Modernisierungstheorie und mischt sich gleichzeitig nachdrücklich ein in die Diskussion, die Huntingtons Buch zum "Zusammenprall der Kulturen" ausgelöst hat: "Zivilisierung", so die Auflösung des Titels, stellt das Ergebnis kollektiver Lernprozesse gegen die Prämissen herkömmlicher Kultur dar, geschieht also praktisch wider Willen und im Konflikt mit der eigenen Tradition. Im Rahmen gesellschaftlicher Modernisierung liegen die "markanten kulturellen Konfliktlinien der Gegenwart innerhalb der vielzitierten Kulturbereiche und in einzelnen Gesellschaften und keineswegs in erster Linie zwischen ihnen".
Senghaas kritisiert in diesem Sinne sowohl die These vom "Zusammenprall der Kulturen" als auch einen generellen Kulturrelativismus; vielmehr geht es ihm um die Anerkennung allgemeiner Charakteristika des zivilisatorischen Prozesses, nämlich der Notwendigkeit der Entwicklung von Verfahren der friedlichen Konfliktregelung und der Monopolisierung legitimer Gewaltanwendung auf immer höherer Ebene im Zusammenhang mit der Differenzierung gesellschaftlicher Entwicklung und Arbeitsteilung.
Nicht zu bestreiten ist die hervorragende Rolle, die Dieter Senghaas bei der Einführung der kritischen Friedens- und Entwicklungsländerforschung vor allem in die nicht-marxistische Diskussion spielte. Zweifellos war es Senghaas, der diese Arbeitsperspektive am effektivsten in einem breiten Teil der sozialwissenschaftlichen Diskussion verankerte, vor allem durch seine Arbeit in der HSFK und der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (GDFK).
Wilfried Graf ist Mitarbeiter des ÖSFK.
Das Österreichische Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) ist ein privater, gemeinnütziger und parteiunabhängiger Verein zur Förderung von Friedensforschung, Friedenserziehung und Friedenspolitik. Schwerpunkte sind die Friedensuniversität und die Trainingskurse für zivile Konfliktbearbeitung.