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Wissenschafter kämpft gegen Rechtsauslegung. | Sorge: Kritische Berichte könnten unterbunden werden. | Wien/London. "Hände weg von der Halswirbelsäule", warnen Neurologen seit Jahren: Wenn ein Chiropraktiker dem Patienten wegen Verspannungen am Hals den Kopf "zurecht-rückt", kann ein Schlaganfall die Folge sein. Solch ruckartig forcierte Kopfbewegungen üben nämlich auf die sogenannten Vertebral-Arterien hohe Zug- und Scherwirkungen aus.
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In der Folge kann es zu Wandeinrissen bei den das Hirn versorgenden Adern und zur Unterversorgung des Gehirns kommen. Zahlreiche Fälle - in vielen kam es auch zu irreversiblen Lähmungen - sind dokumentiert. In einigen auf Schlaganfälle spezialisierten Klinikabteilungen kommen ein bis zwei Prozent der Patienten vom Chiropraktiker.
Doch darüber hatte der weltbekannte britische Wissenschafter und Autor Simon Singh in seiner Kolumne in der Tageszeitung "The Guardian" gar nicht geschrieben. Vielmehr hatte er Chiropraktiker angegriffen, die behaupteten, mit ihren Manipulationen 95 Prozent aller Krankheiten heilen zu können, insbesondere Kinder mit Koliken, Asthma, Ohrinfektionen, Schlaf- und Ernährungsstörungen sowie übermäßigem Weinen, da alle diese Leiden von der Wirbelsäule ausgingen.
Chiropraktiker wehrten sich gegen Vorwürfe
Das war im vorigen Jahr. Singh knüpfte damals an das von ihm gemeinsam mit dem nicht minder bekannten Wissenschafter Edzard Ernst verfasste Buch "Trick or Treatment - Alternative Medicine on Trial" (deutsch: "Gesund ohne Pillen - Was kann die Alternativmedizin?") an. Das rief die British Chiropractic Association (BCA) auf den Plan - allerdings anders, als man vermuten würde. Sie distanzierte sich nicht vom angeprangerten betrügerischen Humbug, sondern zog vor Gericht. Und sie klagte nicht die Zeitung, sondern explizit Singh wegen "Diffamierung".
Zu diesem Zweck bediente sich die britische Chiropraktikergesellschaft eines Rechts, des "Libel Law", das außerhalb der Insel nur schwer verständlich und nicht vergleichbar mit den hiesigen Gesetzen über Ehrenbeleidigung oder üble Nachrede ist.
"Libel Law": Beklagter kann fast nur verlieren
Es kostet den Beklagten nämlich schon im Vorverfahren jede Menge Geld für Gebühren und Anwälte, während der Kläger nach dem für ihn positiven Verfahrensausgang einen neuerdings immer öfter horrenden Schadensersatz geltend machen kann.
Der Beklagte kann dabei fast nur verlieren. Sei es, dass das Gericht entscheidet, dass zum Beispiel dem Kläger 500.000 Pfund zustehen oder dass dieser nach einer Abweisung die Kosten von - im gegebenen Fall - etwa 50.000 Pfund nicht erstatten muss.
Singh und "The Guardian" hatten der BCA zunächst eine 500 Wörter-Gegendarstellung zum Beweis für die Richtigkeit der Angaben auf deren Webseite angeboten, denen zufolge Kinder mit den genannten Leiden tatsächlich durch Chiropraxis geheilt werden können. Und sie hatten das Recht auf freie Meinungsäußerung eines Autors im Rahmen einer Kolumne geltend gemacht.
Wissenschafter kämpft auch für seine Kollegen
Beides wurde nun nach einjährigem Verfahren vom Hohen Englischen Gericht in Person von Sir David Eady nicht gewürdigt, der entschied, dass Singhs Ausführungen eine Tatsachenfeststellung und kein Kommentar gewesen seien.
Nach reiflicher Überlegung und zahlreichen Unterstützungsadressen von Wissenschaftern und Wissenschaftspublizisten aus aller Welt hat sich Singh nun entschlossen, trotz des fast ruinösen Risikos in die Vollverhandlung einzusteigen, weil es hier um mehr geht als nur um seinen Fall.
Das "Libel Law" erstreckt sich nämlich auf alle Wissenschafter und Wissenschaftsjournalisten, die in englischer Sprache publizieren, sofern deren Arbeiten - und wenn auch nur im engsten Kreis - in England und Wales erscheinen. Eine breite Lobby ist daher für seine Abschaffung.