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Digitale Demokratie

Von Günter Hoffmann

Reflexionen

Der deutsche Landkreis Friesland hat als weltweit erste Kommune die Beteiligungsplattform "Liquid Feedback" eingeführt. Seitdem kann sich jeder Bürger rund um die Uhr in die regionale Politik einmischen.


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Das Schloss der Kreisstadt Jever.
© Foto: Hans P. Szyszka/NA/Novarc/Corbis

Jever, Kreisstadt des Landkreises Friesland, im nordwestlichen Zipfel Deutschlands: Wenn man im ersten Stock des Backstein-Kreishauses Landrat Sven Ambrosy (SPD) bei einer Tasse Tee gegenüber sitzt, sprudelt es aus ihm heraus. Wie es war, damals am Ostersonntag 2012, als er Muße hatte, in einem Nachrichtenmagazin den Beitrag über die Beteiligungsplattform Liquid Feedback zu lesen, mit der die Piratenpartei versuchte, mehr innerparteiliche Demokratie zu erreichen. Und wie er sich fragte: "Wieso benutzen wir die eigentlich nicht?"

Weltpremiere in Jever

Mit der Software könnten 80.000 Bürger in seinem dünn besiedelten Landkreis in der Kommunalpolitik mitreden, Anträge einbringen, abstimmen und sehen, was der Kreistag daraus macht. Jederzeit, an jedem Ort. "Wenn das Internet in die Richtung geht, dass sich unsere Bürger schnell informieren können, müsste es doch auch in der umgekehrten Richtung zu nutzen sein, denn die Bürger wollen zusehends mitreden."

Die eine Richtung des Informationsflusses funktioniert schon relativ gut. 93 Prozent der Verwaltungen informieren ihre Bürger bereits mit Hilfe des Internet über Öffnungszeiten, Verwaltungsangelegenheiten, Arbeitsmarkt, Wahlen, Haushalte, Ratssitzungen. Doch die E-Partizipation der Bürger, die Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen, steht erst am Anfang und ist seit Ende der 1990er Jahre nur in einigen Städten zu begrenzten Themen möglich gewesen. So beispielsweise in Bonn zu einem Bebauungsplan, in Hamburg zum Bau einer Wohnbrücke über die Elbe, in Berlin zur Neunutzung des Flughafengeländes Berlin-Tempelhof, zu einer Parkgestaltung in Dresden oder in Magdeburg zur Meldung von Infrastrukturproblemen, wie defekten Straßenlaternen oder Schlaglöchern an Gehwegen und Straßen.

Landrat Ambrosy war von seiner Idee der internetgestützten Bürgerbeteiligung so begeistert, dass er sofort zu Liquid Feedback recherchierte. "Ich bin davon ausgegangen, dass es irgendwo in Deutschland einen Kollegen gibt, der diese Software schon einsetzt und Erfahrungen damit hat." Aber zu seiner Verwunderung brachte die Recherche kein Ergebnis. Dann, gleich am Dienstag nach Ostern, nimmt sein Pressechef Kontakt zu dem Berliner Verein auf, der die Beteiligungssoftware Liquid Feedback entwickelt hatte.

Dessen Vorstandmitglied Andreas Nitsche reagierte skeptisch auf die Idee des Landrates. Denn diese Art digitaler Bürgerbeteiligung gab es weltweit noch nicht, und das Programm von Liquid Feedback müsste umgeschrieben werden. "Wir hatten die Software 2009 zur demokratischen Selbstorganisation in politischen Parteien geschrieben und dabei eine Mischform aus direkter und repräsentativer Demokratie genutzt. Was dem Landrat vorschwebte, schien etwas anderes zu sein", erinnert sich Nitsche später.

Ambrosy war es ernst mit dem Projekt. Er, der vor elf Jahren mit 32 der jüngste Landrat Deutschlands war und mit 75 Prozent in die zweite Amtszeit gewählt wurde, überzeugte nicht nur Nitsche, den Kreistag und seine Verwaltung, sondern auch seine Kommunalaufsicht im niedersächsischen Innenministerium. Nachdem der Kreistag die Bürgerbeteiligungsplattform "Liquid Friesland" einstimmig abgesegnet hatte, startete das Projekt am 9. November 2012, mit einem Festakt im Audienzsaal des Schlosses, in die einjährige Testphase. "Weltpremiere für Bürgerbeteiligung", schrieb die Lokalzeitung stolz auf der Titelseite. Kosten: 11.400 Euro für Installation und Betreuung. Mehr muss Demokratie nicht unbedingt kosten.

Aktive Beteiligung

Mit der Beteiligungsplattform können die Bürger erstmals in die Kommunalpolitik eingreifen. Sie stellen ihre Anträge (beispielsweise zu neuen Radwegen, zur Einrichtung von Jugendgemeinderäten oder zur Stärkung des Nahverkehrs) namentlich zur Diskussion und Abstimmung ins Netz. Erfolgreiche Anträge werden im Kreistag behandelt. Zudem ist noch ein zweiter Kommunikationsweg installiert: der von oben nach unten. Um ein Meinungsbild der Bürger zu erhalten, hat der Kreistag zugesagt, alle Anträge zu veröffentlichen, bevor sie abgestimmt werden. Allerdings ist das Bürgervotum nicht bindend für die Abgeordneten.

Die erste Initiative kam von Peter Lamprecht. Der 51-jährige, ehemalige Tornadopilot der Marine wohnt mit seiner Familie seit elf Jahren in Jever. Er las in der Presse von der Auftaktveranstaltung, beantragte seine Zugangsdaten, registrierte sich und tippte die Initiative "Wiedereinführung des alten Autokennzeichens JEV für den Landkreis" in den Laptop. Ohne große Hoffnungen, wie er später erzählt. "Ich hatte das Projekt zunächst sportlich genommen und wollte sehen, was sich dahinter verbirgt."

Sechs Wochen später, nachdem über 50 Friesen sein Projekt im Netz diskutiert und abgestimmt hatten, wussten alle Beteiligten: Liquid Friesland funktioniert. Zwar bekam Lamprecht bei der Abstimmung nicht die Mehrheit, und auch der Kreistag lehnte sein Projekt ab; trotzdem ist er stolz auf seine Eingabe, weil sie bis vor kurzem die am meisten diskutierte war.

Sven Ambrosy, der innovative friesische Landrat.
© Foto: Ambrosy

Gleichzeitig bestand die Initiative eine weitere Bewährungsprobe: Denn anders als bei den anonymen Abstimmungen, innerhalb der Piratenpartei oder zu den In-frastrukturmaßnahmen in Bonn, Hamburg oder Berlin, können sich die Bürger in Friesland nur mit ihrem Klarnamen an Diskussionen und Abstimmungen beteiligen. Für Software-Entwickler Nitsche ist das die Voraussetzung dafür, dass die Abstimmungen transparent und für alle Bürger nachvollziehbar sind.

Bis Anfang 2015 wurden 83 Themen auf Liquid Friesland diskutiert und abgestimmt: 70 davon kamen von den Bürgern, 13 von der Verwaltung. Peter Lamprecht beteiligte sich mit einer weiteren Initiative "weil es so einfach geht". Hinter seinem Antrag "Mitsprache bei der Verteilung von Haushaltmitteln im Schulbereich" verbarg sich der Verdacht, das örtliche Gymnasium werde mit mehr Geld unterstützt und auch zügiger saniert als die Oberschule, an der seine Kinder lernen.

Nach erfolgreicher Abstimmung auf der Internetplattform sicherte der Kreistag zu, künftig über die Vergabe der Mittel für Schulsanierungen frühzeitig zu informieren und die Schulleitung auch in die Planung miteinzubeziehen. Ambrosy sieht darin ein Beispiel von vielen dafür, dass sie es mit der Bürgerbeteiligung ernst nehmen. Nach einer Statistik aus seinem Haus hat der Kreistag 40 Prozent der Bürgeranträge, teils mit ergänztem Inhalt, zugestimmt, 24 Prozent wurden abgelehnt. 21 Prozent der Anträge seien bereits realisiert und bei den übrigen sei der Kreistag nicht zuständig gewesen.

Inzwischen hat Liquid Friesland erneut den Kreistag passiert. Nach dem einjährigen Test wurde das Projekt auf unbestimmte Zeit verlängert, auch wenn die Abgeordneten ihre Erwartungen an die Beteiligung deutlich revidieren mussten. Aber das ficht den Landrat nicht an: "Jeder Bürger zählt. Wenn sich jetzt 580 Bürger an der Kreistagspolitik beteiligen, sind das 580 mehr als vorher. Denn zu den öffentlichen Kreistagssitzungen kamen nie mehr als ein bis zwei Bürger!"

Ob sich die Beteiligung steigern lässt, wird sich zeigen. Nach allen Erfahrungen beteiligten sich in Deutschland an elektronischen Partizipationsverfahren bisher weniger als ein Prozent der Abstimmungsberechtigten. Auch wenn nach einer repräsentativen Studie zur E-Partizipation 79 Prozent der Bundesbürger mehr Einflussmöglichkeiten auf Landes- und Kommunalebene wünschen, beteiligt sich bisher nur eine Minderheit der politisch stark Interessierten. So auch in Friesland. Die Teilnehmer sind zu 80 Prozent männlich, über 50 Jahre alt, mit Hochschulreife. 60 Prozent von ihnen geben ein starkes Interesse an der Kommunalpolitik an.

Demokratie von Oben

Ursprünglich stammen die Beteiligungsplattformen aus der Industrie. Sie werden dort besonders von IT-Unternehmen bei der Produktentwicklung eingesetzt, um das brachliegende und teilweise entkoppelte Wissen von getrennt arbeitenden Mitarbeitern zu bündeln und in die Produktentwicklung einfließen zu lassen. Bei anderen Unternehmen wird die Software zur stärkeren Kundeneinbindung eingesetzt. So lassen sich frühzeitig Trends erkennen und durch kontinuierliches Feedback Innovationszyklen stark verkürzen und auch mögliche Fehler werden oft schneller aufgedeckt und behoben.

Diese Entwicklung erreicht jetzt auch die Verantwortlichen in den Kommunen. Jede vierte Behörde möchte ihre Bürger stärker in Verwaltungsentscheidungen einbeziehen und investiert daher in den Dialog. Besonders kleine Kommunen wollen über elektronische Mitmachplattformen die Bürgerbeteiligung an Politik- und Verwaltungsentscheidungen verbessern, so das Ergebnis der Studie "Branchenkompass 2013 Pu-blic Services", von dem Beratungsunternehmen Steria Mummert Consulting.

Als Grund für die Zunahme dieses Interesses sieht Professor Herbert Kubicek, Geschäftsführer des Instituts für Informationsmanagement Bremen, die angespannte Haushaltslage in vielen Kommunen. "Knappe Mittel erfordern Prioritäten, die sich mit E-Partizipation inhaltlich besser bestimmen lassen und für die dann größere Akzeptanz gewonnen werden kann. Dies erklärt beispielsweise auch, warum momentan so viele Bürgerhaushalte mit erklärten Sparzielen durchgeführt werden."

Effizienzsteigerung

Dabei geht es darum, Anregungen und Vorschläge der Bürger zu gewinnen, von denen die Planer eine Effizienzsteigerung und Kostenreduktion erwarten. Zugleich wird auch eine frühzeitige Einbindung der Bürger angestrebt, um Konfrontationen mit der Verwaltung zu vermeiden, gerade bei unbeliebten Sparbeschlüssen.

"Liquid Friesland ist keine Revolution", so Landrat Ambrosy. "Neben den Eingaben, Unterschriftensammlungen, Bürgerinitiativen ist es ein weiteres Beteiligungsverfahren. Nicht mehr, nicht weniger." Man könnte es auch anders sagen: Im Gegensatz zum basisdemokratischen Ansatz der Piratenpartei nutzt Ambrosy das Internet, um die Anregungen und Probleme der Bürger aufzugreifen und damit das Modell der repräsentativen Demokratie, und damit auch seine Position als oberster Beamter des Landkreises zu stärken.

Vielleicht kann Ambrosy tatsächlich nicht mehr tun, und es liegt nun an den Bürgern, was sie aus Liquid Friesland machen. Aber nicht nur dort, denn das Beteiligungsmodell spricht sich in Deutschland herum. Der Landkreis Rotenburg an der Wümme will es bis Ende Jänner einführen, die Städte Seelze und Wunstorf bei Hannover arbeiten an der Umsetzung. Und auch in anderen niedersächsischen Landkreisen können die Bürger demnächst wohl liquid mitreden.

Günter Hoffmann lebt und arbeitet als freier Journalist und Dozent in Berlin, schreibt schwerpunktmäßig Hintergrundberichte und Reportagen zum Thema Öffentliche Daseinsvorsorge und Bürgerbeteiligung.