Technologische Sprünge gehen nicht unbedingt gleich mit didaktischen Fortschritten einher.
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Im ganzen Land bereiten sich die Schulen auf den (von vielen Eltern schon ersehnten) Start des Präsenzunterrichts vor. Und doch haben wir noch immer den Jubel jener Apologeten der Digitalisierung im Ohr, die ihre Vision vom virtuellen Unterricht gerade Wirklichkeit werden sahen. Nachdem viele der von ihnen propagierten "Tools" lange Zeit als Ladenhüter galten, ist die Nachfrage binnen weniger Wochen explodiert: Für den Unterricht an Schulen und Hochschulen wurden Apps installiert, Hotlines kontaktiert und über Nacht neue Lerneinheiten auf den diversen Plattformen konzipiert.
Beim Versuch, mit unseren Erfahrungen aus dem analogen Leben die Herausforderungen der virtuellen Umgebung zu meistern, sind wir dabei nicht nur an der Technologie und an uns selbst gescheitert - auch unsere jungen Zielgruppen, denen wir multimediale Erlebniswelten eröffnen sollten, sind weit weniger "digital native" als vermutet.
Wohin uns all dies mittel- oder gar langfristig führen wird, kann uns zwar auch die E-Didaktik-Community nicht wirklich sagen. Doch beginnen sich nach einigen Wochen im extensiven Lehrbetrieb an den (Hoch-)Schulen erste Befürchtungen zu bestätigen: Technologische Sprünge gehen nicht unbedingt gleich mit didaktischen Fortschritten einher, die Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden wird zur seriellen Bewältigung einspuriger Engstellen mit Gegenverkehr, und die Beziehungsebene ordnet sich über weite Strecken der Sachebene unter - wenngleich flankiert von neu entstandenen "Ventilsitten" wie ungewohnt langen Bärten, Jogginghosen oder Haustieren im Homeoffice.
Darunter leidet die im "analogen Alltag" als selbstverständlich vorausgesetzte emotionale Dimension des Sozialen. Zwar ist Unterricht unter diesen Bedingungen noch immer in gewisser Weise "Kommunikation unter Anwesenden", wie Soziologen sagen, weil die physisch Abwesenden weiterhin als sozial Anwesende auftreten (vergleiche dazu "distant socializing"). Mit der (nur ansatzweise zu entschlüsselnden) Körpersprache und der (so gut wie gar nicht wahrnehmbaren) emotionalen Stimmungslage fehlen aber wichtige körperliche Signale für gelingende Kommunikation. Deshalb bedarf es einerseits neuer individueller Kompetenzen, um "digitale Defizite" mit Eloquenz, Extrovertiertheit etc. in der sprachlichen Selbstdarstellung kompensieren zu können. Andererseits ist Unterricht im virtuellen Raum nur mit massiven kommunikativen Verlusten möglich, weil er zwar multimedial, aber gleichzeitig eindimensional ist. Mit anderen Worten: weil er die höhere Komplexität auf der einen (sachlichen, kognitiven) Seite mit reduzierter Komplexität auf der anderen (sozialen, emotionalen) Seite erkauft.
Da aber das Lernen an Schulen und Universitäten heute ohnehin vorrangig als instrumentelles Mittel zum Zweck der Aneignung individueller Kompetenzen gilt und nicht mehr als gemeinschaftliche beziehungsweise vergemeinschaftende soziale Praxis, ist die aktuelle Krise wohl nur ein Katalysator für ein unsichtbares "Muster" (wie es der deutsche Soziologe Armin Nassehi nennt) gesellschaftlicher Entwicklung.