In etwa 2000 Metern öffneten sich die Ladeluken der Militärmaschinen. Dann wurden die Gefangenen, die zuvor von ihren Folterern betäubt und entkleidet worden waren, ins Meer oder in den Fluss La Plata gestoßen. "Manchmal hörten wir noch ihre Schreie, denn nicht immer wirkten die Schlafmittel", sagte vor Jahren einer der Verantwortlichen der Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires (ESMA) aus. Hinter dem harmlosen Namen verbarg sich einer der gefürchtetsten Folterkeller der damaligen Diktatur (1976 bis 1983), die mit solchen "Todesflügen" Regimegegner oder auch nur vermeintliche Oppositionelle zu Tausenden "verschwinden" ließ.
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Zwanzig Jahre später sitzt einer der mutmaßlichen Täter in Madrid in Haft: Ricardo Miguel Cavallo, ehemaliger Korvettenkapitän, 51 Jahre alt, Deckname "Serpico". Am Wochenende wurde er von Mexiko, wo er sich als Unternehmer unter falscher Identität eine neue Existenz aufgebaut hatte, an Spanien ausgeliefert. Vor dem Nationalen Gerichtshof in Madrid soll er sich demnächst wegen Völkermordes, Terrorismus und Folter von Gefangenen in mehreren hundert Fällen verantworten.
Erreicht wurde die Auslieferung vom spanischen Ermittlungsrichter Baltasar Garzon, der bereits 1998 den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet in London hatte festnehmen lassen. Bei Pinochet war der ehrgeizige Jurist allerdings 16 Monate später mit einem Prozess gescheitert, weil Großbritannien ihn in seine Heimat abschob.
Cavallos Überstellung an Spanien ist umso mehr ein juristischer Präzedenzfall, der von Menschenrechtsorganisationen als Meilenstein bei der weltweiten Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gefeiert wird. Denn erstmals muss sich nun ein Scherge einer Militärdiktatur vor einem Gericht außerhalb der eigenen Landesgrenzen verantworten. Die Richter des Obersten Gerichts in Mexiko hatten am 11. Juni Cavallos Auslieferung an Spanien gebilligt - allerdings lediglich wegen Genozids und Terrorismus; Folterdelikte gelten nach mexikanischem Recht als verjährt. Dem Entscheid war ein jahrelanges Tauziehen zwischen Mexiko und Madrid vorangegangen. Der einstige Korvettenkapitän saß 1.000 Tage in Vorbeugehaft.
Cavallo hatte in Mexiko unter falschem Namen als Direktor eines Fahrzeugregisters unbehelligt gelebt, bis die dubiose Firma in die Schlagzeilen geriet und findige Reporter schließlich die wahre Identität des ehemaligen Offiziers aufdeckten. Beim anschließenden Versuch, sich in seine Heimat Argentinien abzusetzen, wurde er im August des Jahres 2000 auf dem Flughafen des Badeorts Cancun verhaftet.
Die Angehörigen der Opfer der argentinischen Militärdiktatur setzen große Hoffnungen in die spanische Justiz. Wäre Cavallo nämlich die Flucht in sein Land gelungen, hätte er dort wegen der geltenden Amnestiegesetze kaum etwas zu befürchten gehabt. "Mit der Ungesühntheit ist jetzt Schluss", meint etwa Ana Testa. Ihr Mann war nach ihren Worten damals von den Männern Cavallos abgeführt worden. Sie sah ihn nie wieder. Aus Buenos Aires war die 48-Jährige bereits nach Mexiko gereist, um gegen "Serpico" auszusagen. "Als ich das Gefängnis sah, wo er einsaß, und wusste, wie nah er mir in diesem Augenblick war, stockte mir der Atem und ich brach weinend zusammen." Dennoch würde sie auch sofort nach Madrid fliegen, um dort vor Gericht zu erscheinen.
Genugtuung für Garzon
"Mit der Auslieferung Cavallos schließt sich ein Kreis, der seinerzeit mit der Freilassung Pinochets durch eine absurde politische Entscheidung durchbrochen wurde", sagt der argentinische Opferanwalt Carlos Slepoy, der seit Jahren in Madrid lebt und mit anderen Juristen als Nebenkläger auftritt. "Der Fall Cavallo wird in ganz Lateinamerika viele pensionierte Militärs erschüttert haben", meint auch die spanische Zeitung "El Pais".
Cavallos unfreiwillige Reise nach Madrid ist auch eine späte Genugtuung für Richter Garzon, der mit der Festnahme Pinochets damals zwar internationalen Ruhm erlangte, dessen Plan, Chiles Ex-Diktator zur Verantwortung zu ziehen, jedoch zum Scheitern gebracht wurde. Auch bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen während der achtjährigen argentinischen Militärdiktatur erlitt Garzon zahlreiche Rückschläge. So wurde 1999 ein von ihm beantragter Haftbefehl gegen die Ex-Militärmachthaber Jorge Videla und Leopoldo Galtieri, den ehemaligen Marinechef Emilio Massera sowie weiterer 95 Militärs wegen Folter, Vergewaltigung, Entführung und Genozids vom damaligen Präsidenten Fernando de la Rua in Buenos Aires abgelehnt. Auch Vorgänger Carlos Menem hatte Madrids Ermittlungen unter Hinweis auf die 1986, 1987 und von Menem höchst persönlich 1990 erweiterten Amnestiegesetze stets ignoriert. Mit Cavallo kann der 47-jährige Garzon nun endlich den Beweis antreten, dass Menschenrechtsverbrechen nicht mehr zwangsläufig ungesühnt bleiben.