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Diplomatie mit Hintergedanken

Von Elmar Samsinger

Wissen

Baron Giesl, Österreichs Botschafter in Belgrad, führte nach dem Attentat von Sarajevo hektische Gespräche mit Serbien und Russland. Sie dienten aber nur der Kriegsvorbereitung.


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Sarajevo, 28. Juni 1914: Erzherzog Franz Ferdinand (Mitte) plaudert mit den regionalen Honoratioren. Wenige Stunden später wurde der Thronfolger ermordet.
© Bettman/Corbis

War es Zufall, dass ausgerechnet Baron Wladimir Giesl von Gieslingen - ein Offizier und kein Berufsdiplomat - Österreich-Ungarn zum Zeitpunkt des Attentats auf den Thronfolger als Gesandter in Belgrad vertrat? Er gab vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs im diplomatischen und politischen Geschehen wohl nur eine Randfigur ab. In den letzten 48 Stunden vor Kriegsausbruch trat er jedoch plötzlich ins Schlaglicht der Geschichte.

Eine Eliten-Karriere

Die Familie Giesl stammte aus dem Rheinland, Johann Nepomuk Giesl wurde von Kaiserin Maria Theresia in den erblichen österreichischen Adelsstand erhoben. Der Vater Wladimir Giesls brachte es zum Feldzeugmeister, sein Onkel war General der Kavallerie. Wladimir Giesl wurde am 18. Fe-bruar 1860 als fünftes Kind in Fünfkirchen/Pécs geboren.

Stationen seiner Ausbildung waren die Benediktinerstifte Kremsmünster und Seitenstetten, das Militärkollegium in St. Pölten, die Militäroberrealschule in Mährisch Weißkirchen/Hranice und die Militärakademie in Wiener Neustadt.

1879 wurde er zum Leutnant der Ulanen und nach Absolvierung der Kriegsschule zum Oberleutnant im Generalstab befördert. 1893 wurde er Militärattaché in Konstantinopel, 1898 Militärbevollmächtigter bei den Gesandtschaften in Athen und Sofia. In gleicher Funktion war er von 1907 bis 1913 in Cetinje/Montenegro tätig. Zu seinen militärdiplomatischen Funktionen äußerte sich Giesl ausführlich in seinen Lebenserinnerungen.

Seine Ausführungen werfen ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Unprofessionalität der Donaumonarchie in Fragen der Außenpolitik sowie auf die eifersüchtig gepflegte Konkurrenz zwischen Diplomatie und Armeeführung, auf deren Minenfeldern sich Giesl während seiner beruflichen Laufbahn bewegte: "Der Pflichtenkreis eines Militärattachés war in Österreich-Ungarn durch keine bindende Instruktion umschrieben; auch vor meiner Abreise von Wien erhielt ich im Evidenzbureau des Generalstabs (militärischer Geheimdienst, Anm.) nur einige vage Richtlinien. Am meisten lernte ich aus den Berichten meiner Vorgänger. Waren diese sachlich sowie eingehend, und irrte sich der Verfasser in seinen Voraussagen nicht, so war man zufrieden, und der betreffende machte Karrière. [. . .]. Ich kam also ohne Instruktion nach Cospoli (Konstantinopel); auch auf der Botschaft gab es keine; das Gewohnheitsrecht vertrat die Stelle des kodifizierten."

Kenner des Balkans

Im Jahr 1910 folgte die Beförderung Baron Giesls zum Feldmarschall-Leutnant, am 13. November 1913 wurde er schließlich als Gesandter und bevollmächtigter Minister nach Belgrad entsandt. Giesl war mit der Situation auf dem Balkan und im Orient bestens vertraut.

Zu seiner beruflichen Einstellung schreibt er in seinen Lebenserinnerungen: "Vielleicht habe ich in gewissem Sinne als Diplomat den Soldaten nicht zu verleugnen vermocht." Seine wenig bekannten Aufzeichnungen geben nicht nur ein anschauliches Bild der politischen Entwicklungen im Osten, sie sind auch ein höchst aufschlussreiches Dokument eines Zeitzeugen zur unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs.

Als am 28. Juni 1914 in Sara- jevo die tödlichen Schüsse auf Thronfolger Franz Ferdinand fielen, weilte Baron Giesl zur Kur in Vichy. Unverzüglich eilte er nach Wien, wo der k.u.k. Minister des Äußern, Graf Berchtold, den balkankundigen Gesandten und General schon bald empfing. Zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits eine Anzahl von Forderungen an Serbien zusammengestellt, jedoch noch nicht beschlossen. Die Kriegspartei am Wiener Hof, angeführt von Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, war zum Krieg mit Serbien wild entschlossen, nur der königlich-ungarische Ministerpräsident Graf Tisza zögerte noch.

Tage hektischer Besprechungen folgten, Giesl kehrte schließlich am Vormittag des 10. Juli 1914 nach Belgrad zurück. Gerade angekommen, erhielt er einen Anruf des kaiserlich-russischen Gesandten Nikolaus v. Hartwig, der um eine dringende Unterredung bat. Hartwig war überzeugter Panslawist mit besten Kontakten zur serbischen Führung, er wollte herausfinden, welche Pläne Österreich-Ungarn nunmehr hegte. Man vereinbarte ein Treffen noch am gleichen Abend.

Ein Diplomatentod

"Pünktlich zur anberaumten Stunde hielt der Wagen des Diplomaten vor dem Hause. Hartwig wurde in mein Arbeitszimmer geleitet. Die folgenden Szenen haften unvergesslich in meiner Erinnerung. Ich bot meinem Besucher eine Schale schwarzen Kaffee an, die er aber ebenso ablehnte wie eine Zigarette; er rauche nur seine russischen. Obwohl er den Weg zu mir nicht zu Fuß zurückgelegt hatte, schien ihm das Atmen sichtliche Beschwerden zu verursachen; die Begrüßungsworte entrangen sich nur stoßweise seinen Lippen. Ich wusste, dass er schwer herzleidend sei und dass die bereits aufgetretene Wassersucht für den sehr korpulenten Mann doppelt gefährlich sei."

Nach höflichen Begrüßungsfloskeln kam man gleich zur Sache, wobei Giesl beschwichtigte. Nur für den Fall einer Verschwörung werde man die Bestrafung der Schuldigen verlangen, ohne jedoch die Souveränität Serbiens anzutasten.

"Die Neue Zeitung" berichtete am 12. Juli vom überraschenden Tod des russischen Botschafters Hartwig in Belgrad.
© Bild: Samsinger

"Der Gesandte schien von meinen Erklärungen voll befriedigt. Schwerfällig erhob sich die massige Gestalt vom Klubsofa; Hartwig drückte mir die Hand: ,Merci, Vous m’avez soulagé et maintenant encore une chose, mais aussi en ami . . .‘ (Sie haben mich beruhigt, und jetzt noch eine andere Sache, aber auch unter Freunden. . . ) Der Faden riss jäh ab; der Sprecher verstummte plötzlich, sank zurück, schloss die Augen und glitt langsam über den Rand der Polsterung auf den Boden nieder. Er begann zu röcheln. Instinktiv blickte ich auf die Wanduhr: es war 9 Uhr 25. Rasch schickte ich den im Vorzimmer wartenden Diener um meine Frau. Wir betteten den Bewusstlosen auf das Sofa; sie rieb seine Stirne und seine Hände mit Eau de Cologne, dann legten wir ihm Eisumschläge auf die Brust. In wenigen Minuten war ein Arzt - von mir telephonisch berufen - zur Stelle. Nach kurzer Untersuchung deutete seine Gebärde an, es sei alles vorüber."

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Tod des russischen Gesandten in Belgrad, wobei in den Zeitungen sogleich wilde Mordgerüchte die Runde machten. Aufgrund der aufgeheizten Stimmung gegen Österreich-Ungarn suchten sogar einige Landsleute Schutz im k.u.k. Gesandtschaftsgebäude. Erst später erkannte Giesl die weitreichenden Folgen von Hartwigs unerwartetem Tod. Dieser war nämlich von der Schlagkraft der serbischen Armee wenig überzeugt und wollte deren Aufrüstung abwarten, bevor man zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam mit Russland zum großen Krieg gegen die Donaumonarchie ausholte.

Ultimatum an Serbien

Nun nahm die Geschichte jedoch einen anderen Lauf und der Gesandte Giesl erhielt den Auftrag, geheime Akten unverzüglich nach Semlin (heute der Belgrader Bezirk Zemun, seinerzeit ungarischer Grenzort) zu schaffen. Angesichts der bedrohlichen Situa- tion richtete Giesl einen Bericht an Außenminister Berchtold, in dem er erklärte, "dass eine Abrechnung mit Serbien, ein Krieg um die Großmachtstellung der Donaumonarchie, ja um ihre Existenz als solche, auf die Dauer nicht zu vermeiden ist".

Am 21. Juli erreichte den Gesandten in Belgrad die "Begehrnote" an Serbien (das Ultimatum) mit einem ausführlichen Begleitschreiben des k.u.k. Außenministers: "Ich beehre mich, Euer Hochwohlgeboren im Anschlusse an den Ihnen heute zukommenden Erlass betreffend die Überreichung unserer Forderungen an die serbische Regierung, im nachstehenden noch einige Verhaltungsmaßregeln zu erteilen. Die Forderungen stellen das Minimum dar, welches wir verlangen müssen, damit unser gegenwärtig ganz unhaltbares Verhältnis zu Serbien geklärt werde. Auch müssen wir darauf bestehen, dass uns die Entscheidung der serbischen Regierung innerhalb der Frist von 48 Stunden bekanntgegeben werde und könnten keinesfalls eine Verlängerung dieser Frist - etwa unter dem Vorwande, dass die serbische Regierung nähere Auskünfte über die Tragweite und den Sinn einzelner unter diesen Forderungen zu erhalten wünsche - zugestehen. Wir können uns auf keine Verhandlung mit Serbien bezüglich unserer Forderungen einlassen, nur deren bedingungslose Annahme innerhalb der vorgesehenen Frist kann uns genügen . . ."

Mit dem Glockenschlage um 18.00 Uhr betrat Baron Giesl am 23. Juli 1914 die Amtsräume von Finanzminister Lasar Paču, der den abwesenden Ministerpräsidenten Nikola Paić vertrat. Da der Finanzminister des Französischen nicht mächtig war, wurde ein Dolmetsch gerufen. Schon nach Übersetzung der einleitenden Sätze protestierte Paču: Da der Ministerpräsident nicht in Belgrad sei, könne er die Verantwortung nicht auf sich nehmen. Darauf entgegnete Giesl ungerührt, dass die Weigerung zu keiner Verlängerung der 48-stündigen Frist führen würde. Sichtlich betroffen nahm der Minister die Note zur Kenntnis.

Quälende Wartezeit

Die nun folgenden 48 Stunden verrannen bleiern, wobei die Mutmaßungen in der Gesandtschaft zwischen Annahme und Ablehnung der Forderungen durch Serbien schwankten. Unzählige Gerüchte machten die Runde und mehrere Journalisten erkoren sich die k.u.k. Gesandtschaft als Beobachtungsposten. Die optimistische Stimmung kippte, als bekannt wurde, dass Serbiens König, Peter I., eine umfangreiche Depesche des russischen Zaren erhalten hatte. Es sickerte durch, dass Nikolaus II. dem serbischen Herrscher die volle Unterstützung Russlands zusicherte. Am 25. Juli 1914 um 17.58 Uhr erschien schließlich der serbische Ministerpräsident und übergab dem österreichisch-ungarischen Gesandten die Antwort seiner Regierung: "Im Ausdrucke seines ausnehmend klugen Auges lag düsterer Ernst. Auf meine Frage nach dem Inhalte der Antwortnote erwiderte Paić in deutscher Sprache, die er nicht vollkommen beherrschte: Einen Teil Ihrer Forderungen haben wir angenommen . . . für den Rest hoffen wir auf die Loyalität und Ritterlichkeit des österreichischen Generals. Wir waren mit Ihnen immer sehr zufrieden."

Im Falle des Abbruches der diplomatischen Beziehungen hatte Giesl die Weisung des Außenministers, zur Abreise den um 18.30 Uhr abgehenden Zug zu benützen. Über die von der k.u.k. Gesandtschaft nun an den Tag gelegte hektische Betriebsamkeit urteilt schon ein Zeitgenosse, der Wiener Journalist und Zeitungsherausgeber Heinrich Kanner, kritisch: "In 32 Minuten hatte also Baron Giesl die vier Druckseiten lange, jeden der zehn Punkte des Ultimatums besonders behandelnde, neue Vorschläge enthaltende Antwortnote Serbiens geprüft, ungenügend gefunden, die serbische Regierung vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen verständigt, sein gesamtes Personal zusammenberufen und mit diesem und dem zugehörigen Gepäck noch den Schnellzug 6 Uhr 30 Minuten erreicht. Ein Kinorekord auf dem Gebiete der Diplomatie, der sich einfach daraus erklärt, dass alles im voraus abgekartet, dass Giesl von vornherein entschlossen war, abzureisen, was immer die serbische Regierung antworte, es sei denn, sie beschränke sich auf ein einfaches Ja zu allen zehn Punkten, und dass dies nicht der Fall war, bewies ihm zu seiner Freude ein flüchtiger Blick auf die Antwortnote und ihre Länge allein schon. Der Krieg, der langersehnte Krieg war da, Baron Giesl hatte das Dokument, das ihn sicherte, in der Hand, der aufgezwungene Friede war endlich aus."

Baron Giesl.
© Foto: Archiv Samsinger

Die serbische Note war - ebenso wie das österreichisch-ungarische Ultimatum vom 23. Juli 1914 - in französischer Sprache abgefasst. Laut Giesls "National- und Dienstbeschreibung für das Jahr 1906" hatte er folgende Sprachkenntnisse: "Polnisch in Schrift und Wort vollkommen, böhmisch zum Dienstgebrauche genügend, spricht und schreibt französisch und türkisch geläufig, spricht italienisch notdürftig, spricht und schreibt englisch sehr gut."

Es darf daher bezweifelt werden, dass Giesl mit seinen nicht "vollkommenen", sondern bloß "geläufigen" Französischkenntnissen in der Lage war, die Feinheiten der serbischen Antwort in derart kurzer Zeit zu analysieren. Diese beschränkte sich nämlich nicht auf das geforderte Ja oder Nein, sondern enthielt ausführliche Formulierungen. Dabei waren die Serben den Österreichern weit entgegengekommen, und selbst Kaiser Wilhelm II. notierte anerkennend: "Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden. Das ist mehr als man erwarten konnte. Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen. Darauf hätte ich niemals Mobilmachung befohlen."

Der Weg in den Krieg

Baron Giesls Lebenserinnerungen machen daher deutlich, dass das von der Kriegspartei in Wien verfasste Ultimatum an Belgrad tatsächlich nur als diplomatischer Vorwand für die Kriegserklärung an Serbien gedacht war.

Nach seiner Mission wurde der Gesandte als getreuer Vollstrecker der Kriegspartei zum General der Kavallerie befördert und als Vertreter des k.u.k. Ministers des Äußern ins Armeeoberkommando entsandt. Baron Giesl rechtfertigte sein Verhalten später immer mit den ihn bindenden Instruktionen, und er bemühte zu seiner Rechtfertigung sogar Kaiser Franz Joseph, der ihn nach seiner Rückkehr in Belgrad empfing: "Sie haben nicht anders handeln können. Ich muß auch das noch auf mich nehmen!"

Der Kaiser unterzeichnete, nachdem er alles geprüft und erwogen hatte, am 28. Juli 1914 in Bad Ischl die Kriegserklärung an Serbien, und Generalstabschef Conrad ließ aufmarschieren.

Zitate aus:Generalmajor Ritter v. Steinitz (Hg.): Zwei Jahrzehnte im Nahen Orient. Aufzeichnungen des Generals der Kavallerie Baron Wladimir von Giesl. Berlin 1927.Joseph Pomiankowski: Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches. Zürich-Leipzig-Wien 1928.Heinrich Kanner: Kaiserliche Katastrophen-Politik. Ein Stück zeitgenössischer Geschichte. Wien 1922.Walter Fabian: Die Kriegsschuldfrage. Grundsätzliches und Tatsächliches zu ihrer Lösung. Bremen 1925.Haus- Hof- und Staatsarchiv A, AR, F 4, K 105, Personalakt Giesl.Begleitbuch zur Ausstellung im Bundesverwaltungsgericht: Mit Bildern in den Abgrund. Der Erste Weltkrieg in Schlaglichtern (28.6.-31.12.2014).Elmar Samsinger ist Asylrichter in Wien und beschäftigt sich mit dem Orient und der Geschichte der
k. u. k. Monarchie.