Eine Ansprache von Papst Pius XII. aus dem Jahr 1942 löst bis heute Kontroversen aus. Ein Überblick.
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Das Theaterstück "Der Stellvertreter" des deutschen Schriftstellers Rolf Hochhuth (1931-2020) wurde am 20. Februar 1963 uraufgeführt. Diese Uraufführung als Skandal zu bezeichnen, wäre fast schon eine Untertreibung. Das Theaterstück war derart kon-trovers, dass es sogar zu internationalen diplomatischen Verwicklungen führte. Die zentrale These des Stückes, das im Jahr 1942 spielt, lautet: Papst Pius XII., der von 1939 bis 1958 das Amt innehatte, habe sich während des Zweiten Weltkriegs nicht zum Massenmord an den Juden durch das nationalsozialistische Regime geäußert, obwohl er es hätte tun können. Hochhuth hat für sein Stück Quellenstudien betrieben und auch die Reden des Papstes ausgewertet.
Ein kürzlich erschienener wissenschaftlicher Beitrag des katholischen Kirchenhistorikers Hubert Wolf (in: "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte") erweckt nunmehr den Eindruck, dass der Schriftsteller gelogen und einen Rufmord am Papst verübt habe: "Anhand der im Rundfunk übertragenen Weihnachtsbotschaft Pius’ XII. vom 24. Dezember 1942 arbeitet [Hubert Wolf] konzise heraus, dass der Papst mitnichten zum Genozid geschwiegen hat", verlautete die Zeitschrift.
Fast genau zum sechzigsten Jahrestag der Uraufführung des "Stellvertreters" gibt es somit einen weiteren Skandal: Hat ein deutscher Autor mit einem Skandalstück seine Karriere befördert, indem er die weiße Gewandung der römischen Lichtgestalt mit dem Vorwurf besudelte, der Papst hätte geschwiegen, obwohl er doch öffentlich Stellung bezogen hat?
Der deutsche Historiker stellt die Sachlage in seiner Zusammenfassung allerdings zu einfach dar. Überhaupt nur in einer einzigen Radioansprache spricht der Papst die Vorkommnisse in Deutschland an. Und hier muss man noch einmal einschränken: Es war eine höchst diplomatisch formulierte Verurteilung des Massenmordes.
In der päpstlichen Abendansprache vom 24. Dezember 1942 wird die "Kritik" von Papst Pius XII. folgendermaßen öffentlich geäußert: "Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind."
In mühsamer Detailforschung arbeitet der Wissenschafter heraus, dass der Papst hier tatsächlich auf die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Bezug nimmt. Hierfür stützt Wolf sich auf eine päpstliche Ansprache vom 2. Juni 1943 an das Kardinalskollegium. Die päpstliche "Klarstellung" findet also nicht in einer öffentlichen Radiosendung statt. Vielmehr wird der kleine Rahmen des Kardinalskollegiums gewählt. Damit wird letztlich nur ein sehr enger Kreis - so viele Kardinäle gab und gibt es nicht - über den Sinn der Formulierungen aufgeklärt, die wohl nicht allen in der weihnachtlichen Radioansprache verständlich waren.
Hubert Wolf bemerkt hierzu: "Hinter dieser Formulierung könnte man mit gutem Willen im Sinne des für Pius XII. typischen uneigentlichen Redens eine, wenn auch sehr verklausulierte Aussage über Hitler und andere Politiker als Verantwortliche für die Shoah sehen, die der Diplomat Pacelli (so der bürgerliche Name des Papstes, Anm.) auch im Kreis seiner Kardinäle nicht namentlich nennen zu können glaubte."
Dies leitet der Kirchenhistoriker daraus ab, dass der Papst von denen spricht, "die aufgrund ihrer Nationalität und Herkunft zur Zielscheibe für noch größere Katastrophen und noch heftigere Schmerzen geworden sind und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind." Daraus folgert der Historiker: "Überträgt man diesen quellengestützten Befund auf die Radiobotschaft vom 24. Dezember 1942, scheint es plausibel zu sein anzunehmen, dass Pius XII. auch hier die einschlägige Passage eigenhändig eingefügt, zumindest aber entsprechend bearbeitet haben dürfte. Wenn dies zutrifft, dann war es am 24. Dezember 1942 und mehr noch am 2. Juni 1943 dem Papst selbst ein persönliches Anliegen, sich zu diesem heiklen Thema öffentlich zu äußern, also zu reden und nicht länger zu schweigen, wenn auch in der ihm eigenen Weise."
Rolf Hochhuth behauptete, dass er die Reden des Papstes gelesen habe. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass ihm diese Formulierung nicht weiter ins Auge gefallen ist. Sie ist so diplomatisch, dass man wohl in der Tat ein wohlwollender Wissenschafter sein muss, um den Papst hier zu verstehen.
Allerdings kann Pius XII. theologisch sehr wohl deutlicher formulieren. An eben jenem 24. Dezember des Jahres 1942, an dem der Papst in seiner Radiobotschaft den Skandal des Massenmordes an den Juden "höchst diplomatisch" angesprochen hat, wurde er hinsichtlich der jüdischen Schuld am Tod Jesu in seiner Ansprache gegenüber den Kardinälen deutlicher. Der Heiland habe Tränen geweint über Jerusalem: "Die Stadt Jerusalem stellte sich seiner Einladung und seiner Freundlichkeit so unbelehrbar verblendet und hartnäckig undankbar entgegen, dass diese Verblendung und dieser Undank sie schließlich auf dem Weg der Schuld bis zum Gottesmord trieben."
Frühe Hinweise
Hier hätte der Historiker dann doch einen Blick auf das zeitgeschichtliche Umfeld werfen können. Es war bekannt - und wurde im Ausland lautstark kommentiert -, dass die nationalsozialistische Propaganda christliche Texte und Ideen zur Verunglimpfung der Juden verwendete. Bereits im Jahr 1938 beklagte etwa der anglikanische Geistliche Francis Evelyn in der "Expository Times", dass das Johannesevangelium eine beliebte Quelle nationalsozialistischer Propaganda sei: "Hier, in diesem Teil der Heiligen Schrift, sagen die Nazis, braucht es nicht einmal einer Überarbeitung, um sie mit unseren Anschauungen in Einklang zu bringen. Hier stoßen Jesus und die Juden in völligem Gegensatz und Hass aufeinander. Dieser Kampf verursachte seinen Tod. Indem wir diesen Kampf fortführen, [sagen die Nazis], folgen wir seinem Vorbild." Der anglikanische Geistliche weist also bereits vier Jahre vor der päpstlichen Weihnachtsbotschaft auf die Verwendung - und damit die Problematik - christlicher Motive im Rahmen der nationalsozialistischen Propaganda hin.
Der Herausgeber des "Stürmer", Julius Streicher, wurde im Rahmen der Nürnberger Prozesse wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. Persönlich hat er keinem Juden etwas zuleide getan. Seine brutale Judenpolemik wurde ihm als Verbrechen angerechnet. Streicher hat im "Stürmer" unter anderem das Motiv des Christusmordes verwendet. Damit kann man festhalten: An eben jenem Tag, an dem der Papst sich mit einer verklausulierten diplomatischen Formulierung an die Öffentlichkeit wendet, um den Massenmord der Nationalsozialisten an den Juden zu verurteilen, begegnet einem in seiner Ansprache an die Kardinäle eines der Motive, die dazu beitrugen, dass der Nationalsozialist Julius Streicher als Verbrecher verurteilt wurde.
Damit ist der Beitrag des deutschen Historikers Wolf ein Beispiel dafür, dass die Verwendung christlicher Motive in der nationalsozialistischen Propaganda bis heute nicht angemessen thematisiert wird. Christliche Theologen konnten den Nationalsozialismus auch als religiöse Erweckung verstehen. Der Zeithistoriker Manfred Gailus weist in einem 2021 erschienenen Buch ("Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich") auf die religiösen Aspekte des Nationalsozialismus hin. Trotzdem erkennt auch er nicht, was ein junger Theologe sagt, wenn er seinen Eintritt in die NSDAP im Jahr 1929 rückblickend so kommentiert: "Zusammenfassend kann ich nur aus ehrlichstem Herzen gestehen, dass der Nationalsozialismus für mich Schicksal und Erlebnis war. Rein stehe ich da vor meinem Gott, vor meiner Kirche und vor meinen Parteigenossen und kann nur sagen: Ich konnte nicht anders!"
Das ist natürlich eine Anspielung auf Martin Luther und seinen Auftritt auf dem Reichstag in Worms am 18. April 1521. Hier geht es um religiöse Identität!
Damit legt der Artikel, mit dem Hubert Wolf den Papst gegen die Darstellung Rolf Hochhuths verteidigen möchte, ungewollt den Finger in eine tiefe Wunde. Schließlich zeigt sein wissenschaftlicher Beitrag, dass bis heute nicht verstanden wurde, wie sehr christliche Judenfeindschaft und nationalsozialistischer Antisemitismus Geschwister waren. Hier wäre dringlich ein wissenschaftlicher Diskurs nötig, zu dem, hat man den Eindruck, der Mut fehlt.
Fatale Übersetzung
Wenn sich Papst Pius XII. am Festtag der Geburt Christi höchst vorsichtig und nur in Andeutungen gegen den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung wendet und gleichzeitig die religiöse Verstockung des Judentums betont, die zum Gottesmord geführt habe, kann er sich hierfür auf das Neue Testament berufen. Die Vertreter der Juden wollten von Anfang an Jesus umbringen. Gleich im dritten Kapitel des Markusevangeliums der vor wenigen Jahren revidierten katholischen Einheitsübersetzung liest man (Mk 3,6): "Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen."
Dies ist eine eindeutig judenfeindlich interpretierende Übersetzung. Vor Martin Luther verstanden die deutschen Bibelübersetzer hier noch sprachwissenschaftlich korrekt, dass die Pharisäer zusammen mit den Anhängern des Herodes darüber berieten, wie sie Jesus loswürden. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man einen Menschen loswerden möchte oder ob man jemanden umbringen möchte.
Alles das hätte für Historiker Wolf Anlass dazu geben können, den Papst und sein Verhalten differenziert(er) darzustellen. Papst Pius XII. war sicher persönlich bewegt von dem, was in Deutschland geschah. Er nützte kirchliche Möglichkeiten, um Jüdinnen und Juden bei der Flucht zu unterstützen. Ob seine Worte aber deutlich genug waren, darüber kann man angesichts der beiden Ansprachen vom 24. Dezember 1942 unterschiedlicher Meinung sein. Da macht es sich Hubert Wolf wohl zu einfach.
Hans Förster lehrt als Privatdozent an der Universität Wien und leitet ein Forschungsprojekt des FWF an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule (KPH) Wien/ Krems.